Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
particularistischen Standpunkt (Windthorst), als vom beschränkt juristischen 
aus (Minckwitz) nur ein schüchterner. Das Gesetz für Errichtung eines Reichs- 
rechnungshofes hat von vornherein Aussicht auf Annahme, da der Reichstag 
seine mit dem alten Conflict wegen des Rechnungshofes zusammen hängenden 
Bedenken im wesentlichen hat fallen lassen. 
28. April. (Preußen.) Der Cultusminister verfügt, daß in der Provinz 
 
Posen nicht mehr, wie bisher, denjenigen Studirenden, welche sich der 
Kenntniß der polnischen Sprache befleißigen, lediglich aus diesem 
Grunde Stipendien zugewandt werden sollen, 
weil der Staat nicht zulassen könne, daß, abgesehen von dem geringen 
Werthe, welchen die Kenntniß des Polnischen habe, für Förderung antinatio- 
naler Bestrebungen, wie solche durch die Verbreitung der polnischen Sprache 
in deutschen Gegenden thatsächlich geschehen sei, obenein noch eine Prämie 
gesetzt werde. 
29.   „ (Deutsches Reich.) Bundesrath: Der Justizausschuß legt dem- 
selben seinen Bericht über die den Jesuiten verwandten Orden und 
Congregationen vor. Derselbe, ein sehr einläßliches Actenstück, läßt 
sich dahin resumiren: 
Der Bericht hebt hervor: das durchschlagende Princip für die Beurthei- 
lung der vorliegenden Frage könne nur aus der dem Gesetze zu Grunde lie- 
genden Absicht entnommen werden. Der Jesuitenorden ist von dem Gebiet 
des deutschen Reichs ausgeschlossen, weil seine Tendenz und Wirksamkeit als 
staatsgefährlich, d. h. mit den Grundlagen und Zwecken des Staates unver- 
träglich anerkannt ist. In gewissem Maße würde das allgemeine Criterium 
der Staatsgefährlichkeit die große Mehrzahl der bestehenden Orden treffen 
müssen, da nach der Ansicht bewährter Canonisten die geistlichen Genossen- 
schaften von der in der katholischen Hierarchie vorherrschenden, den Auf- 
fassungen des Ordens der Gesellschaft Jesu entlehnten Richtung mehr oder 
weniger ergriffen sind. Auch ist es Thatsache, daß viele derselben und gerade 
diejenigen, welche nicht sowohl die Befriedigung des religiösen Bedürfnisses 
ihrer Mitglieder durch Abschließung von der Welt im auge haben, als viel- 
mehr practische Zwecke nach außen verfolgen, die mittelalterliche Verfassung 
abgestreift und eine Form angenommen haben, welche dem Jesuitenorden in 
wesentlichen Beziehungen nachgebildet ist. Da jedoch die Aufhebung der 
religiösen Orden überhaupt nicht in der Absicht des Gesetzes gelegen hat, 
vielmehr zwischen den den Jesuiten verwandten und den ihnen nicht ver- 
wandten Orden zu unterscheiden ist, so werden unter den ersteren nur die- 
jenigen verstanden werden können, welche nach ihrer Organisation, ihren 
Zielen und ihrer Wirksamkeit mit den Jesuiten entweder auf gleicher Stufe 
der Staatsgefährlichkeit stehen, oder doch in hervorragendem Maß als deren 
Hilfsgenossen anzusehen sind. Wollte man den Begriff noch enger fassen und 
als „verwandt“ nur diejenigen Orden und ordensähnlichen Congregationen 
anerkennen, welche als Filial-Institute von den Jesuiten gegründet oder ihrer 
unmittelbaren Leitung unterstellt sind, so würde die Gesetzesbestimmung rück- 
sichtlich der „Orden“ bedeutungslos sein, da in diesem Sinn keiner der vor- 
handenen Orden zu jener Categorie gehören würde, und von den „Congrega- 
tionen“ — unter welchem Ausdruck der kirchliche Sprachgebrauch religiöse 
Vereine versteht, deren Mitglieder ein einfaches (nicht feierliches) Gelübde 
abgelegt haben — nur die Gesellschaft des Sacré-Coeur und der mariani- 
schen Congregationen hieher zu rechnen sein. Dieses Sachverhältniß ist so 
bekannt, daß das Gesetz, sofern eine solche Beschränkung in seiner Absicht 
gelegen hätte, jene Genossenschaften ausdrücklich würde genannt haben. Wenn 
es statt dessen einer allgemeinen Bezeichnung sich bediente, so liegt darin der