Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 135 
des Provinziallandtags von Posen, daß kein Mitglied desselben jemals der 
deutschen Sprache nicht mächtig gewesen sei; durch die parallele Anwendung 
beider Sprachen seien nur die größten Weiterungen herbeigeführt worden. 
Von 800,000 Polen in der Provinz seien nur 64,000 der deutschen Sprache 
nicht mächtig, meist ältere Leute der untersten Volksschichten; die Beamten, 
mit welchen dieselben in. mündlichen Verkehr kämen, verständen alle auch 
polnisch. Die Opposition verhindert indeß die Annahme des Entwurfs und 
damit das Zustandekommen des Gesetzes noch in dieser Session, indem sie die 
Ueberweisung an eine Commission trotz des bevorstehenden Schlusses des 
Landtags gegen die Regierung durchsetzt. 
15. Mai. (Preußen.) Der Domherr v. Richthofen in Breslau wider- 
 
ruft seine früher ertheilte Zustimmung zum Unfehlbarkeitsdogma. Der 
Fürstbischof von Breslau excommunicirt denselben noch am gleichen 
Tage und ohne alle Beobachtung der dafür vom canonischen Rechte 
vorgeschriebenen Formen, ohne Admonition, ohne Suspension, perem- 
torische Frist u. dgl., degradirt ihn und erklärt ihn unter Zurückforderung 
der päpstlichen Bestallung des Canonicats verlustig, offenbar, um durch 
dieses übereilte Verfahren der Wirkung der am gleichen Tage im 
Reichsanzeiger publicirten kirchenpolitischen Gesetze noch zuvorzukommen. 
16.   „ (Deutsches Reich.) Reichstag: Debatte über den ihm vom 
Reichskanzler vorgelegten zweiten Jahresbericht über die Gesetzgebung 
so wie die Einrichtungen und den Gang der Verwaltung in Elsaß- 
Lothringen für 1872— 73. 
Windthorst-Meppen muß die sorgfältige Pflege der materiellen Ver- 
hältnisse der neuen Reichslande, die gute und zweckmäßige Einrichtung des 
Finanz= und Steuerwesens, die Organisation der Gerichte, die Regelung der 
communalen Einrichtung anerkennen, beklagt dagegen die Art und Weise, 
wie den ultramontanen Umtrieben überall mit Nachdruck entgegen getreten 
wird, wobei er die eigentlichen Urheber der von ihm angefochtenen Gesetz- 
gebung — Kaiser, Bundesrath, Reichstag — klug umgehend, die ganze 
Schale seines Zorns auf den Oberpräsidenten und seine Räthe ausgießt. 
Der Reichskanzler antwortet ihm mit schneidender Ironie, indem er die 
ultramontanen Umtriebe beleuchtet und Windthorst als das kein Wässerlein 
trübende Lämmlein behandelt. Zur Sache erörtert er, wie die Frage überall 
gesetzlich vollständig geregelt sei, indem er die bestimmte Erklärung beifügt: 
„Am 1. Januar 1874 hat die Dictatur ein Ende, so weit der Reichstag nicht 
ein Anderes beschließt; die darauf bezügliche Vorlage ist bereits ausgearbeitet. 
Sie selbst werden dann zu bestimmen haben, was an die Stelle der jetzigen 
Einrichtung zu treten hat und in welcher Weise der Reichstag seine Befug- 
nisse ausüben will. Ich sehe einem solchen Zusammenarbeiten mit unsern 
elsäßischen Landsleuten in so weit mit Hoffnung entgegen, als ich darin eine 
wesentliche Verbesserung der gegenseitigen Beziehung und des Einverständnisses, 
eine Klärung mancher noch unverstandener deutscher Verhältnisse erblicke und 
ein Mittel, den Bestrebungen der Partei, die einen engeren Anschluß nicht 
will, entgegenzuwirken.“ Sonnemann (Frankfurt) nimmt sich der franz. 
Partei in Elsaß-Lothringen und ihrer Umtriebe in einer Weise an, die von 
Bamberger mit Indignation und Schmerzgefühl in zündenden Worten 
energisch zurückgewiesen wird. 
„ (Preußen.) Abg.-Haus: genehmigt in dritter Lesung die Gesetz- 
vorlagen betr. die Eisenbahnanleihe und die Verwendung des preußi- 
schen Antheils der Kriegesentschädigung und ertheilt dem Präsidenten