174
Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.
kommt die Frage der Civilehe auf die Tagesordnung. Die Debatten
leitet ein längeres Referat des Decans Dr. Schellenberg aus Mannheim ein,
welches, die vom Ausschusse aufgestellten Thesen motivirend, die Einführung
der obligatorischen Civilehe als eine staatliche und kirchliche Nothwendigkeit
fordert und für die Kirche nur das Recht in Anspruch nimmt, nach Voll-
ziehung des bürgerlichen Actes auf Verlangen der Betheiligten die kirchliche
Einsegnung vorzunehmen. Einen Zwang solle die Kirche selbst in dieser
Beziehung nicht ausüben. Auch die römisch-katholische Kirche, welche sich
am Meisten der Einführung der Civilehe widersetze, thue Dieß nicht aus
theologischen, sondern aus rein politischen Gründen, sie mache aus der Ehe-
frage eine Machtfrage. Wer die Aufgabe der Kirche nicht in hierarchischen
Bestrebungen, sondern in der Förderung des sittlichen Familienlebens erblicke,
der müsse sich für die obligatorische Civilehe erklären. Im Eingange seines
Vortrages gesteht der Redner indeß zu, daß die kirchliche Trauung zur Volks-
sitte geworden und eine Aenderung hierin ohne deutliche Belehrung des
Volkes über den Sachverhalt schwer zu bewerkstelligen sei. Zuletzt werden
mit Stimmenmehrheit folgende Thesen angenommen: 1) die bürgerliche Ehe-
schließung ist in der Rechtsseite der Ehe begründet. Sie ist keine Neuerung,
sondern im Gegentheil ein uralter, von der gesammten römischen und ger-
manischen Welt und auch von der Kirche im Mittelalter wie von den Re-
formatoren anerkannter Rechtssatz. 2) Nur als obligatorisch zweckentsprechend,
ist sie eine unausweichliche und unverschiebliche Forderung in Folge der Ver-
schiedenheit der Confessionen, der Anmaßungen der Hierarchie, des Kampfes
zwischen Staat und Kirche. 3) Sie ist keine Schädigung der Kirche. Als
ein bürgerlicher Rechtsact berührt sie das Gebiet der Kirche nicht. Die kirch-
liche Trauung (Einsegnung dagegen, als der auf die religiöse und sittliche
Seite der Ehe sich beziehende Act, gewinnt als frei erfüllte Gewissenspflicht
an Reinheit und Weihe und erhöht als erbetener Act die Würde und das
Ansehen der Kirche. Die hohe Wichtigkeit der religiösen und sittlichen Seite
der Ehe erheischt von der Kirche bei Einführung der Civilehe die volle Gel-
tendmachung der hierin obliegenden Pflicht, und zwar soll sie a) für rechtes
christliches Verständniß der Ehe wirken, b) bei ihren Gliedern ernstlich darauf
hinwirken, daß sie die Ehe nicht anders schließen, als mit dem Segen der
Kirche, der aber willig gewährt werden soll und nicht zu willkürlichen Ein-
griffen in die persönliche Freiheit der Ehegatten mißbraucht werden darf.
4) Die mit Einführung der bürgerlichen Eheschließung nöthig werdende kirch-
liche Trauordnung (Verkündigung, Trauungsformularien etc.) muß von der
unumwundenen Anerkennung der mit der bürgerlichen Eheschließung rechtlich
bestehenden Ehe ausgehen.“ Zum letzten Punkt hatte der Referent erläuternd
bemerkt, daß die Braut bei der kirchlichen Trauung bereits mit dem Namen
des Gatten, den sie schon bei der Civiltrauung angenommen, zu nennen sei.
Die bez. der protestantischen Kirchenverfassung nach längerer Debatte
angenommenen Thesen lauten: 1) Die Gemeinde bildet die Grundlage der
evangelisch-protestantischen Kirchenverfassung. 2) Die freie Repräsentativver-
fassung ist für die Kirche nicht weniger als für den Staat ein unabweis-
bares Bedürfniß. 3) Der deutsche Protestantenverein erstrebt keineswegs eine
willkürliche Massenherrschaft, sondern eine geordnete Bethätigung der Gemeinde
in wohlorganisirter Verbindung frei gewählter weltlicher Gemeindeglieder mit
wissenschaftlich gebildeten und berufstüchtigen Geistlichen. 4) Die Gemeinde
soll auf allen Stufen der Kirchenleitung sowohl durch repräsentative Ver-
sammlungen (Ortskirchenversammlung, Kreis-, Provinzial= und Landessynode),
als auch in denjenigen Collegien vertreten sein, welchen die Verwaltung an-
vertraut ist (Presbyterien, Consistorien, Kirchenregiment). 5) In den Synoden
sollen die weltlichen Mitglieder die entschiedene Mehrzahl bilden. 6) Das
Stimmrecht und die Wählbarkeit der weltlichen Mitglieder kommt sämmtlichen
Gemeindegliedern zu, welche sich im Vollbesitze ihrer staatsbürgerlichen Rechte