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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.
Die liberalen Fractionen gebieten wie übrigens schon bisher, unzweifel-
haft über eine entschiedene Majorität, der Schwerpunkt des Hauses erscheint
aber gegen bisher mehr nach links gerückt. Eine approximative Uebersicht
des Wahlresultats ergibt folgendes: Das Haus besteht aus 432 Abgeord-
neten, da aber die beiden von Dänen besetzten Plätze, da sie den Verfassungs-
eid wohl neuerdings verweigern, sofort wieder vacant werden, aus 430 Abgg.,
die absolute Mehrheit also aus 216. Die Abgg. zerfallen nun in folgende
Gruppen: I. Liberale: Fortschritt 69, Nationalliberale 182, zusammen
251 oder 35 über die absolute Mehrheit; II. Conservative: Minister 4,
Frei-Conservative 40, Neu-Conservative 22, Alt-Conservative oder Feudale
6, zusammen 72; III. Ultramontane und Genossen: Clericale 85, Polen
18, Welfen 2. In der Provinz Posen gehören von den 29 Abgg. 14 der
deutschen und 15 der polnischen Partei an. Das der deutschen Nationalität
ungünstige Wahlresultat ist insofern auffallend, als nach dem Ausfall der
Urwahlen die deutschen Wahlmänner in acht Wahlkreisen, welche 17 Abge-
ordnete zu wählen haben, sich entschieden in der Mehrheit befanden und
mithin die Wahl von 17 deutschen Abgeordnten vollständig gesichert schien.
Die der Deutschen ist aber getäuscht worden durch den Wahlkreis
Fraustadt-Kröben, in welchem die der deutschen Nationalität angehörigen
katholischen Wahlmänner ihre deutschen Landsleute im Stiche gelassen und
mit den staats= und reichsfeindlichen Polen gestimmt haben.
4. Nov. (Preußen.) Der Erzb. von Posen Ledochowski protestirt gegen
die von der Regierung über ihn, bis er sich bereit erkläre, die Stelle
eines Propstes in Filehne definitiv (d. h. gesetzmäßig) zu besetzen, ver-
hängte Temporaliensperre.
Der Erzbischof erklärt dem Oberpräsidenten rundweg, daß „von einer
anderweitigen Besetzung des genannten Benefiziums nicht die Rede sein könne,
nachdem die canonische Ristitution des Geistlichen Arndt erfolgt sei“ und
behauptet im Uebrigen, daß der Staat verpflichtet sei, ihm sein Gehalt aus-
zubezahlen, weshalb er sich auch vorbehält, seiner Zeit sein Recht zu suchen.
Dasselbe hatte und mit denselben Gründen der Bischof von Ermeland gethan,
war aber von den Gerichten damit abgewiesen worden.
„ (Bayern.) Der König läßt den Landtag durch den Prinzen Luit-
pold ohne Thronrede eröffnen.
5. „ (Preußen.) Bei den Stadtverordnetenwahlen in Köln siegen die
Liberalen vollständig trotz der größten Anstrengungen der Ultramon-
tanen.
„ (Bayern.) II. Kammer: Wahl des Präsidiums. Die ultra-
montane Partei lehnt die ihr von der Fortschrittspartei angebotene
billige Verständigung ab und unterliegt dann bei der Wahl. Frhr.
v. Stauffenberg wird mit 76 gegen 72 zum Präsidenten, v. Schlör
mit 76 gegen 72 Stimmen zum Vicepräsidenten gewählt.
Die kleine Fraction Sepp, die sich seit dem deutsch-franz. Kriege und der
Aufrichtung des Reichs von den Ultramontanen getrennt hat, stimmt dabei
mit der Fortschrittspartei. Das Resultat wird aber auch so nur erzielt, weil
mehrere Ultramontane zufällig krank sind, mit deren Hülfe die Ultramon=
tanen über eine Mehrheit von 1 oder 2 Stimmen verfügt hätten und ge-
legentlich wieder verfügen werden.
„ (Bayern.) Die Generalsynode der Pfalz schließt ihre Session
ohne irgend ein namhaftes Resultat zu Stande gebracht zu haben.
„In den Hauptfragen hat die Synode trotz alles Hinundherredens nichts