Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
Die liberalen Fractionen gebieten wie übrigens schon bisher, unzweifel- 
haft über eine entschiedene Majorität, der Schwerpunkt des Hauses erscheint 
aber gegen bisher mehr nach links gerückt. Eine approximative Uebersicht 
des Wahlresultats ergibt folgendes: Das Haus besteht aus 432 Abgeord- 
neten, da aber die beiden von Dänen besetzten Plätze, da sie den Verfassungs- 
eid wohl neuerdings verweigern, sofort wieder vacant werden, aus 430 Abgg., 
die absolute Mehrheit also aus 216. Die Abgg. zerfallen nun in folgende 
Gruppen: I. Liberale: Fortschritt 69, Nationalliberale 182, zusammen 
251 oder 35 über die absolute Mehrheit; II. Conservative: Minister 4, 
Frei-Conservative 40, Neu-Conservative 22, Alt-Conservative oder Feudale 
6, zusammen 72; III. Ultramontane und Genossen: Clericale 85, Polen 
18, Welfen 2. In der Provinz Posen gehören von den 29 Abgg. 14 der 
deutschen und 15 der polnischen Partei an. Das der deutschen Nationalität 
ungünstige Wahlresultat ist insofern auffallend, als nach dem Ausfall der 
Urwahlen die deutschen Wahlmänner in acht Wahlkreisen, welche 17 Abge- 
ordnete zu wählen haben, sich entschieden in der Mehrheit befanden und 
mithin die Wahl von 17 deutschen Abgeordnten vollständig gesichert schien. 
Die der Deutschen ist aber getäuscht worden durch den Wahlkreis 
Fraustadt-Kröben, in welchem die der deutschen Nationalität angehörigen 
katholischen Wahlmänner ihre deutschen Landsleute im Stiche gelassen und 
mit den staats= und reichsfeindlichen Polen gestimmt haben. 
 
 
4. Nov. (Preußen.) Der Erzb. von Posen Ledochowski protestirt gegen 
 
die von der Regierung über ihn, bis er sich bereit erkläre, die Stelle 
eines Propstes in Filehne definitiv (d. h. gesetzmäßig) zu besetzen, ver- 
hängte Temporaliensperre. 
Der Erzbischof erklärt dem Oberpräsidenten rundweg, daß „von einer 
anderweitigen Besetzung des genannten Benefiziums nicht die Rede sein könne, 
nachdem die canonische Ristitution des Geistlichen Arndt erfolgt sei“ und 
behauptet im Uebrigen, daß der Staat verpflichtet sei, ihm sein Gehalt aus- 
zubezahlen, weshalb er sich auch vorbehält, seiner Zeit sein Recht zu suchen. 
Dasselbe hatte und mit denselben Gründen der Bischof von Ermeland gethan, 
war aber von den Gerichten damit abgewiesen worden. 
„ (Bayern.) Der König läßt den Landtag durch den Prinzen Luit- 
pold ohne Thronrede eröffnen. 
5.   „ (Preußen.) Bei den Stadtverordnetenwahlen in Köln siegen die 
Liberalen vollständig trotz der größten Anstrengungen der Ultramon- 
tanen. 
„ (Bayern.) II. Kammer: Wahl des Präsidiums. Die ultra- 
montane Partei lehnt die ihr von der Fortschrittspartei angebotene 
billige Verständigung ab und unterliegt dann bei der Wahl. Frhr. 
v. Stauffenberg wird mit 76 gegen 72 zum Präsidenten, v. Schlör 
mit 76 gegen 72 Stimmen zum Vicepräsidenten gewählt. 
Die kleine Fraction Sepp, die sich seit dem deutsch-franz. Kriege und der 
Aufrichtung des Reichs von den Ultramontanen getrennt hat, stimmt dabei 
mit der Fortschrittspartei. Das Resultat wird aber auch so nur erzielt, weil 
mehrere Ultramontane zufällig krank sind, mit deren Hülfe die Ultramon= 
tanen über eine Mehrheit von 1 oder 2 Stimmen verfügt hätten und ge- 
legentlich wieder verfügen werden. 
„ (Bayern.) Die Generalsynode der Pfalz schließt ihre Session 
ohne irgend ein namhaftes Resultat zu Stande gebracht zu haben. 
„In den Hauptfragen hat die Synode trotz alles Hinundherredens nichts