Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 217 
Character: Der Württemberger und der Badener habe kaum ein anderes 
Rechtsbedürfniß, als der Preuße, und der Preuße kaum ein anderes als der 
Bayer, denn es läßt sich nicht in geographische Gränzen drängen. Man habe 
ihm gesagt, daß er sich im Bundesrath einfach majorisiren lassen solle; 
dieses Martyrium sei zwar einfach, laufe aber darauf hinaus, die 
Fronte gegen das Reich zu gewinnen. Dazu lasse er sich nicht ge- 
brauchen. Eines vielmehr ertrage er schwer: daß sein Heimathland im Bun- 
desrath einfach majorisirt werde, das sei die größte Demüthigung für ihn. 
Er glaube endlich, daß die nachkommende Generation den Männern dankbar 
sein werde, welche Gesetze, die nicht einmal in der Muttersprache bestehen, 
durch eine einheitliche Gesetzgebung ersetzen und daß die Vaterlandsliebe viel- 
leicht die idealste Frucht der wiedergebornen Reichseinheit sei." 
9. Nov. (Preußen.) Graf Roon erhält als Ministerpräsident und Kriegs- 
minister seine Entlassung, Fürst Bismarck wird wieder zum Minister- 
präsidenten, der Finanzminister Camphausen zum Vicepräsidenten des 
Staatsministeriums, einer bisher nicht bestandenen Stelle, Gen. v. Ka- 
meke zum wirklichen Kriegsminister ernannt. Ein überaus huldvolles 
Schreiben des Kaisers an Roon lautet fast mehr wie der Brief eines 
Freundes als wie ein amtliches Schreiben. Die lang dauernde Crisis 
des preuß. Ministeriums ist damit beendigt. Der Reichskanzler steht 
auch in Preußen wieder an der Spitze der Regierung, die Sicherheit 
in der Entwickelung der Reichsangelegenheiten scheint dadurch neuerdings 
gewährleistet, die öffentliche Meinung ist befriedigt. 
10. „ (Preußen.) Von den widerspänstigen niederhessischen Geistlichen 
sind bis jetzt 10 in ihren Aemtern suspendirt worden, ohne daß es 
allem Anscheine nach auf die übrigen einen besonderen Eindruck ge- 
macht hätte. Sechszehn hannoversche lutherische Geistliche, die sich für 
die hessischen Vilmarianer erklärt haben, werden vom Hannoverschen 
Consistorium in Untersuchung gezogen; ihrer Erklärung sind inzwischen 
24 weitere hannoversche Geistliche beigetreten. 
10.—11. „ (Hessen.) II. Kammer: beharrt gegenüber der I. Kammer 
auf der Ausschließung der Orden aus den öffentlichen Schulen nicht 
nur, sondern auch aus den Privatschulen, doch mit einer leichten Modi- 
fication. 
Der ursprüngliche Regierungsentwurf hatte die Bestimmung enthalten, 
daß alle religiösen Orden aus den öffentlichen Schulen ausgeschlossen seien. 
Trotz der massenhaften Proteste der Ultramontanen gegen diese Bestimmung 
ging die zweite Kammer noch weiter und beschloß, daß die Ordensangehörigen 
auch von den Privatschulen ausgeschlossen werden sollten. Die erste Kam- 
mer verwarf diesen Zusatz, der auch von der Regierung nicht angenommen 
wurde. Nach mehrfachen Verhandlungen kommt nun das Compromiß der 
Regierung und der Majorität der zweiten Kammer dahin zu Stande, daß 
der Ausschluß der Lehrthätigkeit von Ordenspersonen auch auf Privatschulen 
ausgedehnt, der Regierung aber bis zum Erlaß eines Kirchengesetzes die 
Befugniß der Dispensationsertheilung für einzelne Fälle eingeräumt werde. 
In dieser Form wird das Gesetz mit allen gegen die Stimmen der drei ultra- 
montan gesinnten und einiger demokratischer Abgeordneter angenommen. 
Die erste Kammer wird freilich voraussichtlich den Entwurf mit diesen Be- 
stimmungen abermals ablehnen, die Liberalen trösten sich indeß damit, daß