Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

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Trankreich. 
Hr. v. Goulard zurücktrat, so hatte dieß nicht in einer prinzipiellen Mei- 
nungsverschiedenheit seinen Grund. Wir waren mit zwei Fragen beschäftigt: 
mit der Ausarbeitung der constitutionellen Gesetze und mit der Frage, ob 
wir nicht nach dem Ausfall der letzten Wahlen bei Ihnen die förmliche An- 
erkennung der Republik beantragen sollten. In beiden Punkten waren die 
beiden ausgetretenen Minister in allem Wesentlichen mit uns einig. Herr 
v. Goulard gehorchte persönlichen Eindrücken, über welche ich nicht berufen 
bin, Rechenschaft zu legen; man frage ihn selbst, wenn man darüber aufge- 
klärt sein will. (Sehr gut! links.) Weiter heißt es, das neue Cabinet sei 
auf einer zu engen Grundlage entstanden, mit andern Worten, es sei aus- 
schließlich dem linken Centrum entlehnt. Aber an wen sollten wir uns, 
einmal entschlossen, auf die definitive Einführung der Republik zu dringen, 
anders wenden, als an die Männer, welche erst vor wenigen Tagen öffentlich 
dieses Programm aufgestellt haben: (Höhnisches Gelächter rechts.) Sie 
werden Ihr Urtheil bei Gelegenheit unserer Vorlagen sprechen können. Wir 
mußten uns fragen, warum die großen Wählermassen sich von der conser- 
vativen Republik ab= und der radicalen Partei zuwendeten, warum ein so 
hochverdienter Minister, einer der hervorragendsten Männer unserer Zeit, in 
Paris unterlag, und wir fanden den Grund in dem herrschenden Provisorium. 
Allerdings erklärte ich mich noch im Dreißigerausschuß für dasselbe (Tumult 
rechts), aber auch ich mußte in den Wahlen vom 27. April und 1. Mai 
eine große Lehre erkennen, welche von dieser Seite (zur Rechten gewendet) 
nicht hinlänglich gewürdigt wird; ich mußte erkennen, daß eine definitive 
Regierung nöthig ist, um die drohende Gefahr zu bekämpfen. Darum haben 
wir unsere Vorlagen eingebracht und darum müssen wir erklären, daß, wenn 
Sie nicht in die Anerkennung der Republik willigen, wir für die öffentliche 
Ordnung in unserem Lande nicht einstehen können. Hr. Thiers: Die 
Nat.-Versammlung wird sich nicht wundern, mich auf dieser Tribüne erschei- 
nen zu sehen. Der einzige, der hier verantwortlich ist vor der Kammer und 
dem Lande, das bin ich. Ich will Ihnen ganz genau die Politik darlegen, 
welche ich seit zwei Jahren befolgt habe. Sowohl das Gesetz als die bloße 
Vernunft berufen mich also zu Erklärungen. Bei Ministern mag man es 
begreifen, wenn sie, in der Ueberzeugung, dem Lande Gutes zu erweisen, die 
Gewalt nicht gern aus den Händen geben. Mein Fall ist aber ein anderer. 
Ich bin auf diesen Posten unter den schwierigsten Umständen, die jemals in 
unserer Geschichte eingetreten sind, berufen worden. Ich habe ihn ohne lange 
Widerrede angenommen aus bloßem Pflichtgefühl, das Land weiß es recht 
gut. Jetzt mögen Sie über mich zu Gericht sitzen; Ihr Verdict soll für mich 
Geseg, sein. Ich achte die politische Gewissensfreiheit wie die religiöse; aber 
der Augenblick ist feierlich, und ich muß nach jeder Richtung offen sprechen. 
Nun denn, diese Politik, welche man eine zweideutige genannt hat, ist von 
meinen Collegen und mir nicht frei gewählt, sondern sie ist uns durch die 
Umstände aufgezwungen worden. Wir hatten daran kein anderes Verdienst, 
als daß wir die Situation richtig begriffen. Es galt damals ohne Finanzen, 
ohne Armee, den Fremdling auf dem Landesboden und inmitten des Partei- 
kampfes eine Regierung herzustellen. Betrachten Sie sich selbst und die Spal- 
tungen in Ihrer Mitte, dann sagen Sie, ob es leicht ist, hier zu regieren. 
Ich will Sie nicht beleidigen, aber lassen Sie mich es offen sagen: die einen 
von Ihnen wollen die Republik, die anderen die Monarchie. Beide Ueber- 
zeugungen sind ehrenwerth. Wer möchte die Anhänger der Monarchie tadeln, 
a diese durch Jahrhunderte die Größe Frankreichs ausgemacht hat? Anderer- 
seits dürfen die Anhänger der Republik wieder sagen, daß in einer Zeit, da 
ie Democratie in vollen Strömen fließt, die Republik diejenige Regierungs- 
form sei, welche Frankreich retten soll. Wie gering die Differenz zwischen 
beiden Parteien in diesem Hause ist, das haben Sie so eben bei der Wahl 
des Hrn. Martel und Hrn. v. Larcy gesehen. Ich muß es offen aussprechen: