Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

64 
Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
erleben, daß auch das Staatswesen dadurch auf das Tiefste erschüttert werden 
wird, und im schließlichen Ende, darüber bin ich nicht zweifelhaft, wird 
allerdings der Sieg den Kirchen verbleiben, nicht dem Staate. Die Kirche 
hat die Verheißung, der Staat nicht, und diesen Kampf gewinnt der, der 
am längsten lebt (Oho! links). Ja, der am längsten lebt, und darin liegt 
auch ein Trost, weil allerdings Diejenigen, welche mit besonderem Behagen 
diesen Streit zu führen scheinen, sterblich sind, und nach ihnen eine andere, 
hoffentlich ruhigere Generation folgen wird. Ich glaube, wir können uns 
beruhigen; es ist lediglich ein Menschenwerk; es ist ein Bauwerk, bei welchem 
der Fürst Reichskanzler der Bauherr, der Vorstand des Cultusministeriums 
der Baumeister, der Berichterstatter Dr. Gneist der Oberarbeiter, der Polier, 
und der Professor Friedberg in Leipzig der Handlanger ist. Das Recht der 
römisch-katholischen und der evangelischen Kirche — beide sind in Deutsch- 
land in Bezug auf das Recht vollkommen gleich — beruht zunächst in ihrer 
Stiftung, dann aber unzweifelhaft auf den Bestimmungen des westphälischen 
Friedens, der nicht aufgehoben, sondern gerade durch den § 15 in seinen 
wesentlichsten Momenten bestätigt ist; ferner auf dem Reichsdeputationsbe- 
schluß und endlich, was Preußen betrifft, rücksichtlich der einzelnen Stücke, 
die demselben nach und nach angewachsen, auf den Zusicherungen, die in den 
Friedensinstrumenten und außerdem in den Besitzergreifungspatenten gegeben 
sind. Sie beruhen, was die römische Kirche allein betrifft, auf den Ver- 
trägen, die mit dem römischen Stuhle abgeschlossen und in der preußischen 
Gesetzsammlung als das Statut der römischen Kirche hingestellt sind. Die 
Gesammtheit dieser Rechte bleibt voll und ganz bestehen, und der § 15 drückte 
es aus, daß die innerhalb dieses Rechts den Kirchen zustehenden Befugnisse 
dem Staate gegenüber unabhängig und selbständig seien. Dieses Recht wollen 
die Herren jetzt ändern. Freilich sagt der Bericht, es handelt sich nur um 
eine Declaration dessen, was in der Verfassung an sich steht. Wenn das 
wahr ist, dann ist es auch Declaration, wenn ich sage: weiß ist nicht weiß, 
sondern schwarz. Die Kirche welche selbständig erklärt wird, soll nicht nur 
in Bezug auf das Grenzgebiet zwischen ihr und dem Staat den Gesetzen 
unterliegen; nein, man will sie beliebig auflösen und reglementiren können. 
Das eben ist der große Fehler der Jetztzeit, daß man glaubt, der Staat allein 
dürfe die Souveränität in Anspruch nehmen. Nein, m. H., innerhalb des 
Kreises der Kirche ist diese selbst souverän ebenso wie der Staat. Nur über 
das Grenzgebiet kann ein Conflict entstehen, und da sagt nun allerdings 
v. Bennigsen, der deutsche Geist sei berufen, die Aufgabe definitiv zu lösen, 
wie dieß Grenzgebiet festzustellen sei. Ja, m. H., jeder Grenzstreit hat eben 
ein Ende, wenn ich meinen Grenznachbar einfach todtschlage, und in diesem 
Versuch besteht denn auch in der That die Lösung dieser Aufgabe im deut- 
schen Geist. Den letzten Zusatz, den Sie zum Art. 15 beantragen, kann man 
einfach übersetzen: durch Staatsgesetze kann man die Kirche und das Kirchen- 
gut säcularisiren. Derartige Gedanken haben in Versuchsstudien bereits Fleisch 
und Blut gewonnen. Es sind bereits vom Cultusministerium Entwürfe 
in's Land hinausgegangen über die Verwaltung des Kirchenvermögens, die, 
wenn sie definitiv Gesetz geworden sind, nichts Anderes bedeuten, als das 
Kirchengut zu Gunsten der Gemeinden zu säcularisiren. (Zustimmung links.) 
Die Herren links müssen so etwas sehr gern wünschen, und unzweiselhaft 
ist dieß einer der Entwürfe, die uns als eine große, noch im Anzug befind- 
liche Wolke hingestellt werden. Cultusminister Dr. Falk: Die Staatsregie- 
rung machte zwar von Anfang an den Standpunkt sich nicht zu eigen, daß 
einzelne Bestimmungen der Vorlagen mit der Verfassung nicht im Einklang 
seien, konnte aber doch nicht umhin, einen solchen Standpunkt als einen 
berechtigten anzuerkennen. Von diesem Gesichtspunkte aus deutete sie einen 
Weg an, auf welchem man derartigen Bedenken gerecht werden konnte. Dieser 
Weg, die doppelte Abstimmung über die Gesetze selbst, hat, wie die erste