72 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 10.)
zur Geltung zu bringen, welches bei Behandlung der Fragen von handels-
politischem Interesse in Ostasien zur Herrschaft gelangt ist.“ Am 24. April
berichtet der Botschafter, daß die französische Regierung mit der deutschen Auf-
fassung einverstanden sei. Gleichzeitig haben die Gesandten in Haag, in Madrid,
in Rom und in Washington den Auftrag erhalten, den betreffenden Re-
gierungen die deutsche Auffassung mitzuteilen. Am 29. April wird der
Botschafter in London beauftragt, der englischen Regierung zu eröffnen, daß
Deutschland der Anwendung der Bestimmungen des Kongo-Vertrages auf
Reichsangehörige nicht zustimmen könne. Am 5. Mai wird der Botschafter
beauftragt, die deutsche Auffassung bezüglich einer internationalen Regelung
der Kongo-Frage zur Kenntnis der englischen Regierung zu bringen. Dieser
Erlaß lautet:
„Was die Kongo-Frage betrifft, so wünschen wir keine Privilegien für
uns, aber eine Regelung, welche unserem Handel in den bisher unabhängigen
Gebieten volle Gleichberechtigung mit dem Handel jeder anderen Nation sichert
und ihn gegen Verdrängung aus seinen in friedlicher Arbeit errungenen
Positionen oder gegen Verkürzung der Möglichkeit seiner Ausbreitung und
Entwicklung in einem Weltteile schützt, für dessen Erschließung auch Deutsch-
land erhebliche Anstrengungen durch muthige Forscher und unternehmende
Kaufleute gemacht und große Opfer gebracht hat. Die im Laufe der Ver-
handlungen zwischen England und Portugal erfolgten amtlichen Kundgebungen
beider Regierungen hatten zu der Annahme berechtigt, daß die bestehende
Handels- und Verkehrsfreiheit im ganzen Kongo-Becken durch keine territorialen
Arrangements beeinträchtigt werden würde. Dieser Annahme hat der Inhalt
des am 26. Febr. d. J. in London unterzeichneten Vertrags nicht entsprochen.
Wir sowohl wie andere Regierungen haben deshalb in Lissabon und in
London erklärt, daß wir die den fremden Handel betreffenden Bestimmungen
des englisch-portugiesischen Vertrags für uns und unsere Angehörigen nicht
als verpflichtend ansehen würden. Einer Meldung der kaiserlichen Gesandt-
schaft in Lissabon vom 30. v. M. zufolge hält die portugiesische Regierung
an dem Vertrage vom 26. Febr. d. J. fest, bis die Frage der Ratifizierung
desselben durch England entschieden ist. Wie ich aus Ew. Exzellenz
gefälligem Bericht vom 1. d. M. ersehe, will Lord Granville mit Rücksicht
auf den Widerspruch, welchen der Vertrag bei verschiedenen Mächten hervor-
gerufen hat, die Wiederaufnahme der Verhandlungen in Lissabon vorschlagen.
Es ist nicht ersichtlich, ob die großbritannische Regierung hierbei an eine
neue nur mit Portugal zu führende Verhandlung denkt, oder ob ihr die
Absicht vorschwebt, eine Verständigung mit den anderen interessierten Mächten
über eine neue Vertragsbasis zu suchen. Es erscheint daher zeitgemäß, das
Londoner Kabinet auf die Nützlichkeit des letzteren Verfahrens aufmerksam
zu machen, welches seit langer Zeit und mit gutem Erfolg auch bei Regelung
der Handelsbeziehungen in Ostasien auf der Basis der Solidarität und
Gleichberechtigung der Mächte zur Anwendung gekommen ist. Lord Gran-
ville erkannte die Notwendigkeit der Zustimmung der anderen an dem Handel
im Kongo-Gebiet interessierten Mächte zu den Abmachungen zu Zweien noch
in der Note an Hrn. d'Antas vom 1. Juni v. J. mit den Worten an:
„Futility of a mere dual arrangement between the two countries
unrecognized by other powers." Der Vertrag vom 26. Febr. d. J. hat
zunächst zur Folge gehabt, die Ansprüche Portugals gegenüber dem fremden
Handel zu steigern. Bisher ist nicht zu erkennen, daß man sich in Lissabon
von der Notwendigkeit überzeugt hat, dem von dem Handelsstande aller
Nationen erhobenen Einspruch gegen die Erweiterung des portugiesischen
Kolonialbesitzes durch eine zeitgemäße Reform des portugiesischen Kolonial-
systems Rechnung zu tragen. Zur Verhütung von Reibungen unter den