92 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 7. —8.)
längerung der Wahlperioden aus sachlichen, im Gesetz selbst liegenden Grün-
den den a. h. Intentionen und Überzeugungen zuwiderläuft.“ Jedenfalls
aber beweise die Möglichkeit dieser Situation, daß die parlamentarische
Fiktion, wonach von Absichten und der Person des Monarchen nicht die
Rede sein dürfe, mit der Verfassung nicht im Einklange stehe. Daß eine
Differenz zwischen Krone und Ministerium nur durch Trennung beider von
einander Erledigung finden könne, sei weder im Recht noch in der Tradition
begründet. Wenn ein Minister, was täglich geschehe, in irgend einer den
Staat nach seiner Ansicht nicht gerade gefährdenden Angelegenheit von seinen
Kollegen überstimmt werde, so scheide er deshalb nicht aus. Eine solche
Frage liege hier nicht vor. Daß ein Ministerium seine Entschlüsse beim
König nicht immer durchzusetzen vermöge, lehre eine vierzigjährige Erfahrung.
Wollte deshalb immer ein Kabinet zurücktreten, so käme man schon einem
französischen Ministerverbrauche näher. Würden die Minister glauben, daß
die dreijährigen Wahlperioden den Staat wesentlich schädigen, so hätten
sie längst eine Verlängerung beantragen müssen. Allein sie hätten dieselbe
für immerhin sehr nützlich gehalten und deshalb den Antrag der Mehrheit
beider Häuser beim Könige unterstützt. Die Minister werden nun zu er-
wägen haben, ob sie den Nutzen einer Verlängerung der Legislatur-Perioden
so hoch anschlagen, daß sie die Verantwortlichkeit für einen Rücktritt in der
heutigen Sachlage vor dem Lande zu übernehmen bereit sind, wenn die bis-
herige Wahlperiode weiter zu Recht bestehen bleibt. Berechtigt sei das
Kabinet jederzeit dazu, aber die Gesamt-Situation lege jedem gewissenhaften
Minister eine besonders vorsichtige Erwägung der Frage vor, welche Rück-
wirkung ein Kabinetswechsel in diesem Augenblicke auf das Maß von Ver-
trauen üben würde, dessen sich Preußen bei seinen Freunden im Reiche und
außerhalb desselben erfreue, und auf das Maß von Zuversicht, mit welchem
die Gegner des Reiches in Deutschland und Europa in die Zukunft blicken
würden. Jedenfalls habe schon jetzt die Situation bewiesen, daß Preußen
eines seine Regierung lebendig und persönlich leitenden Monarchen bedürfe,
der auch, unabhängig von der Deckung durch verantwortliche Minister, das
Recht habe, persönlich nicht nur auf die Verwaltung, sondern auch auf die
Gesetzgebung einzuwirken.
7. Juni. (Legislaturperioden-Gesetz.) Der „Reichs-
anzeiger“ veröffentlicht das Gesetz, betr. die Abänderung des Ver-
fassungs-Artikels 73 (Verlängerung der Legislaturperiode des preu-
ßischen Abgeordnetenhauses auf fünf Jahre), gegeben zu Charlotten-
burg am 27. Mai.
8. Juni. (Demission des Ministers von Puttkamer.)
In einem die Entwicklung der Minister-Krisis behandelnden Artikel
bemerkt die „Kreuzzeitung“, es stehe historisch fest, daß der Kaiser,
als er am 27. Mai das vollzogene Gesetz, betr. die Verlängerung der
Legislaturperioden, dem Vize-Präsidenten des Staatsministeriums
v. Puttkamer übersendete, zugleich an denselben ein Schreiben richtete,
„worin die Erwartung ausgesprochen ist, daß in Zukunft seitens der
Beamten die Freiheit der Wahlen nicht angetastet werden würde.“ Die
Publikation des Gesetzes war indes an keine Bedingung geknüpft. Dasselbe
sei nur deshalb nicht sofort veröffentlicht worden, weil das Staatsministerium
es für geboten glaubte, den Kaiser zu überzeugen, daß es mit Bezug auf das
neue Gesetz keiner Änderung der Verwaltungspraxis bedürfe, weil dieselbe,