Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 19.—24.) 97 
sein. Frömmigkeit und Gottesfurcht zu pflegen, den Frieden zu schirmen, 
die Wohlfahrt des Landes zu fördern, den Armen und Bedrängten ein 
Helfer, dem Rechte ein treuer Wächter zu sein. 
Wenn Ich Gott um Kraft bitte, diese königlichen Pflichten zu er- 
füllen, die sein Wille Mir auferlegt, so bin Ich dabei von dem Vertrauen 
zum preußischen Volke getragen, welches der Rückblick auf unsere Geschichte 
Mir gewährt. In guten und in bösen Tagen hat Preußens Volk stets treu 
zu seinem König gestanden. Auf diese Treue, deren Band sich Meinen Vätern 
gegenüber in jeder schweren Zeit und Gefahr als unzerreißbar bewährt hat, 
zähle auch Ich in dem Bewußtsein, daß Ich sie aus vollem Herzen erwidere 
als treuer Fürst eines treuen Volkes, beide gleich stark in der Hingebung 
für das gemeinsame Vaterland. 
Diesem Bewußtsein der Gegenseitigkeit der Liebe, welche Mich mit 
Meinem Volke verbindet, entnehme Ich die Zuversicht, daß Gott Mir Kraft 
und Weisheit verleihen werde, Meines königlichen Amtes zum Heile des 
Vaterlandes zu walten. 
Potsdam, 18. Juni 1888. Wilhelm. 
19. Juni. Der Prinz-Regent von Braunschweig, 
Albrecht, wird zum Feldmarschall ernannt. 
23. Juni. (Graf Waldersee.) Das „Berl. Tageblatt“ und 
nach ihm einige andere freisinnige Blätter berichten von einer Frik- 
tion, die zwischen dem Reichskanzler und dem Generalquartiermeister, 
Graf Waldersee aus Gründen der äußeren Politik entstanden sei. 
In ähnlichem Sinne bemerken die „Hamb. Nachrichten“: 
„Daß in mehreren kritischen Momenten der auswärtigen Politik noch 
zu Lebzeiten Kaiser Wilhelms I. Graf Waldersee der Vertreter eines offen- 
siven Vorgehens gegen Rußland war und dabei dem Fürsten Bismarck als 
Gegner gegenüberstand, ist so gut bezeugt, um als sicher betrachtet werden 
zu können. Wie weit daraus eine Gegnerschaft entstanden ist, welche dauernd 
und daher auch jetzt latent, vorhanden ist, das steht dahin; aber in neuester 
Zeit, insbesondere seit dem Regierungsantritt des jetzigen Kaisers, dürfte 
kaum ein aktueller Anlaß zur Bekundung des Gegensatzes von irgend einer 
Seite sich ergeben haben. Wenn Graf Waldersee demnächst ein Armeecorps 
übernehme, müßte er selbst das Verlangen danach gehabt haben, was aber 
nicht als wahrscheinlich gilt.“ 
24. Juni. (Einzug Kaiser Wilhelms und der Kaiserin 
Augusta Viktoria in Berlin.) Dieselben waren um halb 6 Uhr 
abends von Potsdam mit der Dampf-Yacht „Alexandra“ nach Char- 
lottenburg gefahren und bestiegen dort einen vierspännigen offenen 
Wagen, dem eine Eskadron Garde-Kürassiere voranritt und eine 
zweite folgte. Die Fahrt ging durch die Hauptstraße des Tier- 
gartens zwischen der zahllosen Menschenmenge nach Berlin, wo das 
Kaiserpaar um 8 Uhr 20 Minuten durch das Brandenburger Tor 
einfuhr, und sich, im Schritt fahrend, unter der herzlichsten Be- 
grüßung des Publikums, welches sich an den Wagen herandrängte, 
nach dem Schlosse begab. 
Europ. Geschichtskalender. XXIX. Bd. 7
	        
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