98 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 24.—25.)
24. Juni. (Ansprache des Reichskanzlers an den Bun-
desrat.) Die „Post“ veröffentlicht den Wortlaut der Ansprache
des Reichskanzlers an den Bundesrat am letzten Donnerstag, worin
sich Fürst Bismarck, nachdem er der Trauer über den Tod des
Kaisers Friedrich Ausdruck gegeben und den Übergang der Kaiser-
würde auf Wilhelm II. angezeigt, in folgender Weise äußerte:
„Se. Majestät der Kaiser, durchdrungen von der Größe der ihm auf-
erlegten Verantwortung, übernimmt dieselbe (die Kaiserwürde) im Pflicht-
gefühle des von Gott berufenen Nachfolgers seines hochseligen Großvaters
und Vaters und im Vertrauen auf den Beistand, den er in der Erfüllung
der kaiserlichen Pflichten bei den hohen Bundesgenossen zu finden sicher ist.
Se. Majestät rechnet bei Erfüllung der ihm durch die Reichsverfassung ge-
stellten Aufgaben mit Zuversicht auf die stets bewährte bundesfreundliche
Gesinnung und bereitwillige Mitwirkung der verbündeten Fürsten und freien
Städte. Als oberste dieser Aufgaben betrachtet der Kaiser die Aufrechterhal-
tung der Reichsverfassung und den Schutz des Reichsgebietes wie eines jeden
innerhalb desselben geltenden Rechtes. Dieser verfassungsmäßige Schutz deckt
die vertragsmäßigen Rechte der einzelnen Bundesstaaten mit der gleichen
Wirkung wie die der Gesamtheit, und der Kaiser erblickt in der gewissen-
haften Handhabung desselben eine Vertragspflicht Preußens und eine der
Ehrenpflichten, die dem Kaiser obliegen. Das bundesfeste Vertrauen der
deutschen Fürsten und freien Städte zu einander und ihre im Bundesrate
betätigte Einigkeit haben das Reich gefestigt und stark und die gemeinsamen
Bestrebungen aller Bundesglieder für die Wohlfahrt Deutschlands fruchtbar
gemacht. Se. Majestät der Kaiser werden dieses Vertrauen und diese Einig-
keit unter den verbündeten Regierungen mit der gleichen Sorgfalt zu pflegen
bemüht sein, wie dies seinen in Gott ruhenden Vorgängern gelungen ist.
In der inneren wie der auswärtigen Politik will Se. Majestät sich an die
Wege halten, auf denen seine verewigten Vorgänger in der Kaiserwürde
neben der Liebe ihrer Reichsgenossen das Vertrauen der auswärtigen Mächte
dahin gewonnen haben, daß dieselben in der Stärke des deutschen Reiches
eine Bürgschaft des europäischen Friedens erblicken. Se. Majestät hat, um
diese seine Absichten zu verkünden und um allen darüber verbreiteten Zwei-
feln persönlich entgegenzutreten, den Reichstag auf den 25. d. berufen und
mich beauftragt, der zuversichtlichen Hoffnung Ausdruck zu geben, daß Se.
Majestät für die weitere Durchführung der Absichten, von denen seine ver-
ewigten Väter seit der Herstellung des Reiches geleitet wurden, auf die bundes-
freundliche Unterstützung des Bundesrates werde rechnen dürfen.“
25. Juni. (Eröffnung des Reichstages.) Der Kaiser
eröffnet den Reichstag mit folgender Thronrede:
„Geehrte Herren! Mit tiefer Trauer im Herzen begrüße Ich Sie und
weiß, daß Sie mit Mir trauern. Die frische Erinnerung an die schweren
Leiden Meines hochseligen Herrn Vaters, die erschütternde Tatsache, daß
Ich drei Monate nach dem Hintritte weiland Sr. Majestät des Kaisers Wil-
helm berufen war, den Thron zu besteigen, üben die gleiche Wirkung in den
Herzen aller Deutschen, und unser Schmerz hat warme Teilnahme in allen
Ländern der Welt gefunden. Unter dem Drucke desselben bitte Ich Gott,
Mir Kraft zur Erfüllung der hohen Pflichten zu verleihen, zu denen sein
Wille Mich berufen hat. Dieser Berufung folgend, habe Ich das Vorbild
vor Augen, welches Kaiser Wilhelm nach schweren Kriegen in friedliebender
Regierung seinen Nachfolgern hinterlassen und dem auch Meines hochseligen