Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 25.) 99 
Herrn Vaters Regierung entsprochen hat, soweit die Betätigung seiner Ab- 
sichten nicht durch Krankhelt und Tod verhindert worden ist. 
Ich habe Sie, geehrte Herren, berufen, um vor Ihnen dem deutschen 
Volke zu verkünden, daß Ich entschlossen bin, als Kaiser und als König die- 
selben Wege zu wandeln, auf denen Mein hochseliger Herr Großvater das 
Vertrauen seiner Bundesgenossen, die Liebe des deutschen Volkes und die 
wohlwollende Anerkennung des Auslandes gewonnen hat. Daß auch Mir 
dies gelinge, steht bei Gott; erstreben will Ich es in ernster Arbeit. Die 
wichtigsten Aufgaben des deutschen Kaisers liegen auf dem Gebiete der mili- 
tärischen und politischen Sicherstellung nach außen, und im Innern in der 
Überwachung der Ausführung der Reichsgesetze. Das oberste dieser Gesetze 
bildet die Reichsverfassung; sie zu wahren und zu schirmen in allen Rechten, 
die sie den beiden gesetzgebenden Körpern der Nation und jedem Deutschen, 
aber auch in denen, welche sie dem Kaiser und jedem der verbündeten Staaten 
und deren Landesherren verbürgt, gehört zu den vornehmsten Rechten und 
Pflichten des Kaisers. An der Gesetzgebung des Reiches habe Ich nach der 
Verfassung mehr in Meiner Eigenschaft als König von Preußen wie in der 
des deutschen Kaisers mitzuwirken; aber in beiden wird es Mein Bestreben 
sein, das Werk der Reichsgesetzgebung in dem gleichen Sinne fortzuführen, 
wie Mein hochseliger Herr Großvater es begonnen hat. Insbesondere eigne 
Ich Mir die von ihm am 17. November 1881 erlassene Botschaft ihrem 
vollen Umfange nach an, und werde im Sinne derselben fortfahren, dahin 
zu wirken, daß die Reichsgesetzgebung für die arbeitende Bevölkerung auch 
ferner den Schutz erstrebe, den sie im Anschlusse an die Grundsätze der christ- 
lichen Sittenlehre den Schwachen und Bedrängten im Kampfe um das Da- 
sein gewähren kann. Ich hoffe, daß es gelingen werde, auf diesem Wege 
der Ausgleichung ungesunder gesellschaftlicher Gegensätze näher zu kommen, 
und hege die Zuversicht, daß Ich zur Pflege unserer inneren Wohlfahrt die 
einhellige Unterstützung aller treuen Anhänger des Reiches und der verbün- 
deten Regierungen finden werde, ohne Trennung nach gesonderter Partei- 
stellung. Ebenso aber halte Ich für geboten, unsere staatliche und gesell- 
schaftliche Entwicklung in den Bahnen der Gesetzlichkeit zu erhalten und allen 
Bestrebungen, welche den Zweck und die Wirkung haben, die staatliche Ord- 
nung zu untergraben, mit Festigkeit entgegenzutreten. 
In der auswärtigen Politik bin 9. entschlossen, Frieden zu halten, 
mit jedermann, so viel an Mir liegt. eine Liebe zum deutschen Heere 
und Meine Stellung zu demselben werden Mich niemals in Versuchung 
führen, dem Lande die Wohltaten des Friedens zu verkümmern, wenn der 
Krieg nicht eine durch den Angriff auf das Reich oder auf dessen Verbündete 
uns aufgedrungene Notwendigkeit ist. Unser Heer soll uns den Frieden 
sichern, und, wenn er uns dennoch gebrochen wird, im stande sein, ihn mit 
Ehren zu erkämpfen. Das wird es mit Gottes Hilfe vermögen nach der 
Stärke, die es durch das von Ihnen einmütig beschlossene jüngste Wehrgesetz 
erhalten hat. Diese Stärke zu Angriffskriegen zu benützen, liegt Meinem 
Herzen fern. Deutschland bedarf weder neuen Kriegsruhmes noch irgend 
welcher Eroberungen, nachdem es sich die Berechtigung, als einige und unab- 
hängige Nation zu bestehen, endgültig erkämpft hat. 
Unser Bündnis mit Österreich-Ungarn ist öffentlich bekannt. Ich 
halte an demselben in deutscher Treue fest, nicht bloß, weil es geschlossen ist, 
sondern weil Ich in diesem defensiven Bunde eine Grundlage des europäi- 
schen Gleichgewichtes erblicke, sowie ein Vermächtnis der deutschen Geschichte, 
dessen Inhalt heute von der öffentlichen Meinung des gesamten deutschen 
Volkes getragen wird und dem herkömmlichen europäischen Völkerrechte ent- 
spricht, wie es bis 1866 in unbestrittener Geltung war. Gleiche geschichtliche 
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