100 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 25.)
Beziehungen und gleiche nationale Bedürfnisse der Gegenwart verbinden uns
mit Italien. Beide Länder wollen die Segnungen des Friedens festhalten,
um in Ruhe der Befestigung ihrer neu gewonnenen Einheit in der Ausbil-
dung ihrer nationalen Institutionen und der Förderung ihrer Wohlfahrt zu
leben. Unsere mit Österreich-Ungarn und Italien bestehenden Verabredungen
gestatten Mir zu Meiner Befriedigung die sorgfältige Pflege Meiner persön-
lichen Freundschaft für den Kaiser von Rußland und der seit hundert Jahren
bestehenden friedlichen Beziehungen zu dem russischen Nachbarreiche, welche
Meinen eigenen Gefühlen ebenso wie den Interessen Deutschlands entspricht.
In der gewissenhaften Pflege des Friedens stelle Ich Mich ebenso bereitwillig
in den Dienst des Vaterlandes wie in der Sorge für das Kriegsheer und
freue Mich der traditionellen Beziehungen zu den auswärtigen Mächten, durch
welche Mein Bestreben in ersterer Richtung befördert wird. Im Vertrauen
auf Gott und auf die Wehrhaftigkeit unseres Volkes hege Ich die Zuversicht,
daß es uns für absehbare Zeit vergönnt sein werde, in friedlicher Arbeit zu
wahren und zu festigen, was unter der Leitung Meiner beiden in Gott
ruhenden Vorgänger auf dem Throne kämpfend erstritten wurde.“
Zu der Feier waren in Berlin 22 Bundesfürsten erschienen,
darunter der König von Sachsen, der Prinz-Regent von Bayern
und der württembergische Thronfolger Prinz Wilhelm.
Als der Kaiser geendet, reichte er dem Kanzler die Thron-
rede zurück; der Kaiser aber entließ ihn noch nicht, sondern reichte
dem Kanzler vom Throne herab die Hand und schüttelte die des
Kanzlers kräftig. Der Kanzler erwiderte den Händedruck, aber im
nächsten Moment drückte er einen Kuß auf die Hand des jungen
Monarchen. Dann erst begab er sich auf seinen Platz zurück und
erklärte im Auftrage des Kaisers im Namen der verbündeten Re-
gierungen die Sitzungen des Reichstags für eröffnet.
Nach einer Mitteilung der „Berliner Politischen Nachrichten“
hat Kaiser Wilhelm die Aufnahme der Sätze, welche sich auf die
Aneignung der Politik der Kaiserlichen Botschaft von 1881 be-
ziehen, in die Thronrede ausdrücklich befohlen, bevor letztere noch
entworfen war.
25. Juni. (Reichstagssitzung.) Vor Namensaufruf und
Konstituierung sprach Präsident Wedell folgende Worte:
„Wir stehen an der Bahre Kaiser Friedrichs, zum zweitenmal inner-
halb weniger Monate am Grabe unseres Kaisers. Auf Kaiser Friedrich war
die Hoffnung des deutschen Volkes gesteilt, jetzt liegt er in der Gruft nach
einer Regierung von wenigen Monaten! Selten wohl hat ein edler Fürst ein so
trauriges Geschick gehabt, selten wohl sind die Hoffnungen eines treuen Volkes
so bitter zerstört worden! Seit langen Jahren haben wir mit Stolz und
mit Bewunderung auf die ritterliche Gestalt unseres Kronprinzen geblickt,
eingedenk der Taten, die er einst für Deutschland vollbracht hat, voll Dank-
barkeit für das warme Herz, welches in seiner Brust für Deutschland schlug;
aber größer denn je war unsere Bewunderung für ihn in der kurzen Zeit,
während welcher wir ihn unseren Kaiser nennen durften, wo wir sahen, wie
er das schwere Leid, welches Gottes Hand ihm auferlegt hatte, mit einem