Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juli Anf.) 107
glimpfungen und böswilligen Unterstellungen gegen die Nationalliberalen die
Meinung der ganzen konservativen Partei abssprechen sollte, so ist es uns
auch recht, wenn einmal bei den bevorstehenden Wahlen die Kräfte gemessen
werden und die Probe gemacht wird, wer mehr bei dem Zusammengehen
gewinnt, die Konservativen oder die Nationalliberalen“.
Weniger ablehnend bemerkt dann die nationalliberale „Jenaer
Zeitung“:
„Sollte das Kartell auch auf die bevorstehenden preußischen Landtags-
wahlen ausgedehnt werden, so hätte es darüber einer förmlichen Abmachung
unter den beteiligten Parteien bedurft. Der Wunsch nach einer solchen Ab-
machung ist bisher von keiner Seite geäußert worden. Der nationalliberalen
Partei ist konservativerseits ein Kartell für die Landtagswahlen bis jetzt
nicht angeboten worden, sie hat daher ein solches auch nicht ablehnen können."“
Die „Nordd. Allg. Ztg.“ sieht sich alsbald durch diese Dif-
ferenzen zu der Äußerung veranlaßt, daß für die preußischen Land-
tagswahlen die Frage nicht etwa so stehe, ob das nur für die Reichs-
tagswahlen ad hoc geschlossene Kartell für die Landtagswahlen
fortbestehen, oder ob man sich von demselben lossagen, resp. das-
selbe kündigen solle. Die Frage konnte vielmehr nur lauten, ob
das Kartell auf die Landtagswahlen ausgedehnt werden solle. Sie
weist auf die günstigen Ergebnisse hin, welche bei den Landtags-
wahlen von 1885 die für ganze Provinzen getroffenen Verein-
barungen zwischen Konservativen und gemäßigt Liberalen gehabt
haben, und erinnert mit starker Betonung an die Stelle der Thron-
rede vom 27. Juni, in welcher der Befriedigung über den Verlauf
der Legislaturperioden und der Erwartung Ausdruck gegeben wird,
daß es auch in Zukunft gelingen werde, „in gemeinschaftlicher, von
gegenseitigem Vertrauen getragener und durch die Verschiedenheit
prinzipieller Grundanschauungen nicht gestörter Arbeit die Wohl-
fahrt des Landes zu fördern“. Dann fährt sie fort:
„Man könnte nun anführen, für Wahlen zum preußischen Abgeord-
netenhause lägen die Grundbedingungen anders als für Reichstagswahlen,
und es sei nicht notwendig, das für letztere erforderlich gewesene allgemeine
Kartell der reichstreuen Parteien auf erstere auszudehnen, nachdem für diese
die provinziellen, resp. lokalen Abmachungen bereits zu dem gewünschten Er-
folge geführt hätten. Obwohl in dieser Erwägung ein durchschlagender Grund
nicht gefunden werden könnte, generelle Parteibeziehungen, die sich bei den
Reichstagswahlen so vortrefflich bewährt haben, nicht auch bei den Land-
tagswahlen zu knüpfen, so kann dieselbe doch in Anbetracht des großen
Wertes, den unsere Parteien und Parteischattierungen auf dasjenige legen,
was sie von einander trennt, statt in den Vordergrund zu stellen, was sie
vereinigt, verstanden werden — vorausgesetzt natürlich, daß diejenigen, welche
statt eines generellen Kartells nur spezielle Vereinbarungen empfehlen, auch
die Garantie und Verantwortung für die Fortdauer in der günstigen Zu-
sammensetzung des Abgeordnetenhauses zu übernehmen in der Lage sind. Wie
schwer die Bedeutung dieser Verantwortlichkeit wiegt, ergibt sich aus den,