108 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juli Anf.)
in den oben zitierten Sätzen der Thronrede an diese Zusammensetzung ge-
knüpften Hoffnungen und Erwartungen.“
Auch die „Konservative Korrespondenz“ ist mit der Stellung-
nahme der „Kreuzztg." in der Kartellfrage nicht einverstanden. Nach
dem Hinweis auf die Freude der freisinnigen Blätter über die Hal-
tung der Nationalliberalen fährt sie fort:
„Der Beschluß der preußischen nationalliberalen Parlamentarier wird
nun auch in einem konservativen Blatte „mit Genugtuung“ begrüßt, und
wir können zu unserem Bedauern nicht umhin, auch nach dieser Seite einige
gegenteilige Gesichtspunkte des Urteils zur Geltung zu bringen. Kartelle,
so hören wir hier, sind wohl als einmaliges Experiment erträglich, ruinieren
und zersetzen aber, wenn wiederholt und dauernd, die Parteien. Darauf
würde nun nach unserer Auffassung, von der wir glauben möchten, daß sie
die korrekte konservative ist, sehr wenig ankommen, wenn sie nur nicht das
Vaterland ruinieren. Was dessen Interessen aber anbetrifft, so hat, wie
jedermann weiß, ein Zustand gefahrdrohender Zersetzung wohl vor Abschluß
des Kartells in unserem inneren politischen Leben bestanden, ist durch jene
Parteivereinbarung aber gerade beseitigt oder doch abgeschwächt. Selbst wenn
wir die Wirkung des Kartells aber auch nur unter dem konservativen Ge-
sichtswinkel, soweit ein solcher neben dem allgemeinpatriotischen sich über-
haupt herstellen läßt, prüfen, ist uns eine ausreichende Grundlage für das
geringschätzige, ja abfällige Urteil einzelner Konservativen über das Ergebnis
jener Parteivereinbarung nicht erkennbar. Das Kartell hat, wie man weiß,
einen Reichstag geschaffen, der das zum Ausbau unserer Wehrkraft, zur
Schirmung unserer vaterländischen Grenzen und zum Schutz des europäischen
Friedens Erforderliche ohne Zögern bewilligte. Welcher konservative Ge-
danke ist durch den Abschluß des Kartells und unter der gegenwärtigen Reichs-
tagsmehrheit zum Stillstand verurteilt gewesen, und was hätten wir Kon-
servative praktisch bei einer Zusammensetzung des Reichstages wie vor dem
21. Februar 1887 mehr erreichen können? Aber auch für die konservative
Presse ist die Behauptung, daß unter der Einwirkung des Kartells „die
konservativen Gedanken aus Rücksicht auf die liberalen Kartellbrüder nicht
zur freien Entfaltung kämen“, nicht zutreffend.
Als der extrem-konservative „Reichsbote“ eine Aufforderung
aus Hannover abdruckt, bei den Neuwahlen selbständig in dieser
Provinz der nationalliberalen Partei gegenüberzutreten, sieht sich
die „Nordd. Allg. Ztg.“ zu folgender Warnung veranlaßt:
„Daß der „Reichsbote“ ein derartiges Programm aufstellt, nimmt
uns nicht Wunder, das genannte Blatt treibt eben keine nationale Politik,
sondern die Politik einer Handvoll von Parlamentariern, für welche das
Fraktionsinteresse die suprema lox bildet. Alle diejenigen, welche einen be-
rechtigten Anspruch darauf haben, der konservativen Partei zugezählt zu
werden, werden die kläglichen Auslassungen des „Reichsboten“" perhorreszieren.
Die eigentlich konservative Partei hat in Hannover kein Mandat gehabt.
Wer mit offenen Augen, nicht geblendet durch kleinliche Fraktionsinteressen,
die Verhältnisse in Hannover beurteilt, kann darüber nicht im Zweifel sein,
daß in dieser Provinz nur ein Boden vorhanden ist für Welfen, für National=
liberale und allenfalls für Freikonservative. Die alte konservative Partei
wird dort niemals Wurzeln schlagen. Dann ist es aber auch unklug und
unpatriotisch, wenn die Alt-Konservativen dort Propaganda zu machen suchen.