122 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (August 31.)
31. August. (Die letztwilligen Aufzeichnungen Kaiser
Wilhelm I.) Der „Reichsanzeiger“ bringt folgende Veröffentlichung:
Die letztwilligen Aufzeichnungen Seiner Majestät des Kaisers und
Königs Wilhelm I., Meines in Gott ruhenden Herrn Großvaters, enthalten
ein herrliches Zeugnis erhabener Seelengröße und edlen frommen Sinnes,
dessen Kenntnis Ich Meinem Volke nicht vorenthalten will. Ich habe des-
halb an dem heutigen, für Mein Haus bedeutungsvollen Tage beschlossen,
den beikommenden Auszug aus diesen Aufzeichnungen bekannt zu geben, als
ein Denkmal zur Ehre des Entschlafenen, als ein Vorbild für Mein Haus
und für Mein Volk.
Sie haben hiernach das Weitere zu veranlassen.
Potsdam, den 31. August 1888. Wilhelm R.
An den Minister des Königlichen Hauses.
Auszug aus den letztwilligen Aufzeichnungen Seiner Majestät
des in Gott ruhenden Kaisers und Königs Wilhelm.
I. Koblenz, den 10. April 1857.
Im Glauben ist die Hoffnung!
Befiehl dem Herrn Deine Wege und hoffe
auf Ihn, Er wird es wohl machen!
Herr, Dein Wille geschehe im Himmel wie
auf Erden! —
Wenn diese Schrift in die Hände der Meinigen fällt, gehöre ich zu
den Abgeschiedenen!
Möchte es mir vergönnt sein in meinen letzten Lebensstunden, meinen
Geist den Händen meines Gottes zu empfehlen!
Möchte es mir vergönnt sein, von meinen Teueren mich Überlebenden
Abschied nehmen zu können!
Sollte ein jäher Tod mich ereilen, so möge mein ganzes Leben eine
Vorbereitung für das Jenseits gewesen sein!
Möge Gott mir ein barmherziger Richter sein!
Ein viel bewegtes Leben liegt hinter mir!
Nach Gottes unerforschlicher Fügung haben Leid und Freude in stetem
Wechsel mich begleitet. Die schweren Verhängnisse, die ich in meiner Kind-
heit über das Vaterland hereinbrechen sah, der so frühe Verlust der unver-
geßlichen, teuren geliebten Mutter, erfüllte von früh an mein Herz mit Ernst.
Die Teilnahme an der Erhebung des Vaterlandes war der erste Lichtpunkt
für mein Leben.
Wie kann ich es meinem heißgeliebten König und Vater genugsam
danken, daß er mich teil nehmen ließ, an der Ehre und dem Ruhm des
Heeres! Seiner Führung, Liebe, seiner Gnade danke ich ja alles, was er mir
bis zu seinem Tode, vertrauensvoll erwies! Die treuste Pflichterfüllung war
meine Aufgabe in liebender Dankbarkeit, sie war mein Glück!
Dem Könige, meinem Bruder, der mir zugleich vertrauensvoller Freund
ist, kann ich nie hinreichend für diese Stellung zu ihm dankbar sein!
Wir haben schöne, aber auch schwere Zeiten zusammen durchlebt, die
uns aber nur immer enger verbunden haben, vor allem die jüngsten Jahre,
wo Verrat und Irrungen das teure Vaterland dem Abgrund nahe brachten.
Seiner Gnade und seinem Vertrauen danke ich es, daß ich in Deutschland
auf seinen Befehl Ordnung und Zucht herstellen konnte, nachdem Er im
eigenen Lande dies Beispiel gegeben hatte.