Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (September 15.) 129
haltens angesehen und unentwegt die Reichspolitik auch innerhalb Preußens
nach besten Kräften unterstützt. Sie wird auch in Zukunft dieser deutschen
Politik getreu bleiben, welcher die segensreiche Entwickelung der neuern poli-
tischen Institutionen Deutschlands vor allem zu verdanken ist. Gesetzgebung
und Verwaltung der einzelnen Staaten sollen im Einklang mit der Reichs-
politik fortschreiten und die von derselben verfolgten Ziele in gleichem Sinne
innerhalb der Einzelstaaten weiterführen. Insbesondere muß die von der
Reichsregierung angestrebte Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen
die Tätigkeit der Einzelstaaten und der Gemeinden in gleiche Richtung leiten,
soweit Kompetenz und Mittel derselben reichen. Die durch die Aufhebung
der staatlichen Steuerpflicht der untersten Stufen der Klassensteuer und die
Beseitigung des Volksschulgeldes zu diesem Zweck getroffenen bedeutsamen
Maßregeln sind durch eine Reform der direkten Steuern behufs deren ge-
rechterer Verteilung nach Maßgabe des Einkommens und zur Erleichterung
der minder begüterten Klassen in Stadt und Land zu ergänzen. Insbeson-
dere bedarf die Gewerbesteuer-Gesetzgebung in dieser Richtung einer durch-
greifenden Revision. Durch solche Reformen wie durch die erhöhten Über-
weisungen aus den Einnahmen des Reiches werden, in Verbindung mit den
wachsenden eigenen Einnahmen, dem Staate die Mittel gesichert, ohne weitere
Steuerbelastung unerläßliche Aufgaben zu erfüllen. Als solche Aufgaben
betrachten wir vor allem die Entlastung der Gemeinden und die Ersetzung
der schwankenden Zuweisungen aus den Getreidezöllen durch feste, gesetzlich
normierte Beträge, insbesondere durch Überweisung eines Teils der Grund-
und Gebäudesteuer; — die erweiterte Übernahme der Schullasten durch den
Staat; — die gesetzliche Regelung und gerechtere Verteilung der letzteren;
— die Befreiung der Lehrer von den Beiträgen zu den Witwen= und Waisen-
kassen; die Herabsetzung des Stempels bei Veräußerungen und Verpachtungen
von Grundbesitz; — die gesteigerte Verwendung von Mitteln für die Landes-
melioration, insbesondere auch die entschiedene Durchführung von Maßregeln
zum Schutz der von den Hochfluten bedrohten Gegenden; — die erhöhte
Forderung des gewerblichen Unterrichts und der landwirtschaftlichen Schulen;
— die fortschreitende Ausdehnung des Eisenbahnnetzes; — die Schiffbar-
machung und Regulierung der Flüsse, die Herstellung neuer Wasserstraßen
und die Nutzbarmachung derselben für die Landwirtschaft. Nach Einführung
der Verwaltungsjustiz, sowie der Provinzial= und Kreisordnung in allen
Provinzen bleibt auf dem Gebiete der Selbstverwaltung vor allem die Reform
der Verfassung und Verwaltung der Landgemeinden übrig. Die lebendige,
gesehlich geregelte Teilnahme des Volkes an der Verwaltung öffentlicher
Angelegenheiten hat sich in den größeren Bezirken vollkommen bewährt und
der Staatsgewalt neue Kräfte zugeführt. Sie bleibt aber unvollständig, so
lange die Selbstverwaltung der Gemeinden, der untersten Stufen der Staats-
ordnung, nicht den heutigen Bedürfnissen entsprechend geregelt ist. Die Ver-
schiedenheit der sozialen und historischen Verhältnisse wird nicht überall eine
in allen Einzelheiten gleiche Ordnung des Gemeindewesens erfordern oder
zulassen, wohl aber können die wichtigsten Grundlagen der Verwaltung der
Gemeinden, ihre Rechte und Pflichten, die Verteilung der Lasten und dem-
entsprechend die Vertretung, nach übereinstimmenden Grundsätzen geregelt
werden. In verschiedenen Landesteilen ist die Zusammenlegung von Gemein-
den, bezw. Gutsbezirken, welche für sich den heute an die Gemeinde gestellten
Anforderungen nicht mehr gewachsen sind, zur Erfüllung gesetzlich bestimmter
Aufgaben nicht länger zu vermeiden. Die Verfassung dieser Verbände muß
eine gerechte Vertretung und Verteilung der Lasten vorsehen, ohne die bis-
herigen korporativen Rechte der vereinigten Verbände aufzuheben und weiter,
als notwendig ist, zu beschränken. Diese Reformen werden den endlichen
Europ. Geschichtskalender. Bd. XXIX. 9