Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

134 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Sept. Ende — Okt. Mitte.) 
keinen Wahlaufruf, sie könne das Tagebuch als ihr Programm be- 
trachten. Die „Vossische Zeitung“ schreibt: 
Kein Leser werde ernstlich die Echtheit oder Rechtmäßigkeit der Publi- 
kation bezweifeln, niemand sich dem Eindrucke entziehen können, daß Kaiser 
Friedrich den ihm bisher vorenthaltenen Ruhm beanspruchen durfte, der 
Bannerträger der Kaiser-Idee gewesen zu sein und entschiedener als irgend 
ein Deutscher im Hauptquartier für die Wiederaufrichtung des Kaiserthrones 
gekämpft zu haben. Die Nation werde es nicht beklagen, daß ihr nicht nur 
Indiskretionen durch den nächtlichen Tagebuch-Schriftsteller eines großen Mi- 
nisters aufgetischt, sondern daß die Verhältnisse auch einmal in vollem Tages- 
lichte gezeigt werden. 
Von der Kartellpresse äußert sich die „Kölnische Zeitung“: 
„Wir erkennen in diesen Aufzeichnungen die hohe ideale Begeisterungs- 
fähigkeit. Was aber von solcher Fähigkeit in ihm lebte, das galt in jener 
großen Zeit der deutschen Sache. Schon bei Beginn des Feldzuges sieges- 
sicher, faßte Kronprinz Friedrich Wilhelm auch schon zu diesem Zeitpunkte 
mit klarer Erkenntnis und heißer Begierde das Endziel desselben im Sinne 
einer vollständigen Erneuerung Deutschlands ins Auge. Die begeisterte Seele 
des Hohenzollernsprossen sah stets und immer vor dem Auge die leuchtende 
Kaiserkrone schweben, zu einer Zeit, da noch niemand außer ihm unter den 
maßgebenden Personen daran dachte. Der Erbe der preußischen Königskrone 
fühlte sich als Deutscher und begehrte nach dem, was alle warm fühlenden 
Deutschen begehrten. Als dann die Zeit herannahte, wo die stolze Voraus- 
sicht in greifbarer Gestalt als nahe Erfüllung sich zeigte, da begegnete des 
Kronprinzen nationale Begeisterung den größten Schwierigkeiten.“ 
Allein von einigen Blättern der Kartellparteien wird gleich 
von Anfang an das Bedenkliche der Publikation hervorgehoben. 
So bemerkt die „Post“, nachdem sie des Kaisers Begeisterung für 
die Einheit Deutschlands, seine lebendige Tätigkeit und zähe Energie, 
seine schönen rein menschlichen Eigenschaften, sein volles Pflicht- 
bewußtsein in Bezug auf den künftigen Herrscherberuf und die rege 
Beschäftigung mit den daraus sich ergebenden Aufgaben betont: 
„Nach dieser Seite wird und kann man mit der Veröffentlichung der 
Tagebücher und ihrer Wirkung nur zufrieden sein. Kaiser Friedrichs Re- 
gierung hat unter der Einwirkung der Todeskrankheit kein ungetrübtes Bild 
geliefert; um so erwünschter ist alles, was aus der Zeit, wo es Kaiser Frie- 
drich vergönnt war, mit Rat und Tat an der Einigung Deutschlands, der 
Erneuerung von Kaiser und Reich erfolgreich zu wirken, zur Vervollständi- 
gung und Klärung des Bildes Kaiser Friedrichs beitragen kann. 
Nach einer anderen Seite ist die Veröffentlichung ohne Zweifel be- 
denklicher. Die Zeit seit der Errichtung des Reiches ist noch zu früh, um 
ohne Bedenken den Schleier über die intimsten Vorgänge des schwierigen 
Werdeganges des deutschen Reiches zu lüften. Aber nicht bloß nach dieser 
Richtung unterliegt die Veröffentlichung erheblichen Bedenken. Indem das 
Tagebuch eine zum Teil sehr herbe Kritik an dem Verlaufe der Dinge und 
den Männern, welche dabei entscheidend mitwirkten, übt, fordert es geradezu 
zu einem Urteile für und wider die An= und Absichten des Kaiserlichen Au- 
tors auf. 
Dieses Urteil wird, was Staatsweisheit und Staatskunst anlangt, 
nicht in dem Maße günstig ausfallen können, als bezüglich der idealen Ab-
	        
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