Das deusche Reich und seine einzelnen Glieder. (Oktober Mitte.) 149
gänger wieder aufgenommen hatte, ist die persönliche Meinungsverschieden-
heit zwischen ihm und seinem Herrn Sohn schärfer zum Ausdruck gekommen,
am prägnantesten in den Vorgängen, die sich an den Besuch des Kronprinzen
in Danzig im Jahre 1863 knüpften. Aber nicht nur in der inneren Politik,
vielleicht noch konstanter war dies der Fall in der auswärtigen, und würde
sich bei längerem Leben des Kaiser Friedrich gerade diese Verschiedenheit noch
schärfer ausgeprägt haben. Über die Hinneigung Kaiser Wilhelm I. zur
russischen Politik besteht kein Zweifel, über die Vorliebe Kaiser Friedrichs
für englische Beziehungen ebensowenig. Beim Eintritt der Identität zwischen
der russischen. und englischen Politik hätten beide Richtungen ihre Rechnungen
finden können; sie blieben aber unvereinbar, so lange die Interessen Ruß-
lands und Englands divergieren. Es ist deshalb in der auswärtigen Politik
ebensowenig, wie in der inneren möglich — namentlich vom monarchischen
Standpunkt aus ist es ganz unmöglich —, die Politik des Kaisers Wilhelm
und die des Kaisers Friedrich zu identifizieren. Der letztere war zur Zeit
des französischen Krieges bald 40 Jahre, also in einem Alter, wo man seine
eigene und unabhängige Meinung hat. Diese war nicht die seines Herrn
Vaters. Diese Tatsache ist eine menschlich und politisch vollkommen natür-
liche und berechtigte. Tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten über politische
Grundsätze im innern und im äußern wirken bei der männlichen und ge-
wissenhaften Natur der Mitglieder unseres Königlichen Hauses doch hin-
reichend stark, um die Übereinstimmung des Thronerben mit dem regierenden
Herrn zu hindern oder zu unterbrechen. Ein Rückblick auf die Geschichte
des Brandenburgischen Kaiserhauses von der Zeit des Kurfürsten Georg Wil-
helm und seines großen Sohnes bis auf die heutigen Tage liefert in jedem
seitdem vergangenen Menschenalter Beweise von Divergenzen zwischen den
Überzeugungen der Thronerben und der regierenden Fürsten. In der An-
wendung dieser geschichtlichen Auffassung auf die Situation in Versailles in
den Jahren 1870/71 wird eine historisch klare Beurteilung vielleicht nur
durch eine spätere Generation möglich sein, weil die gegenwärtige mit der
absterbenden noch zu sehr verschmolzen ist, um eine rückhaltlose Öffentlich-
keit zu vertragen. Zur Richtigstellung der zeitgenössischen Ansichten glauben
wir nur auf eine Seite der Sache aufmerksam machen zu sollen, die in allen
bisherigen historischen Beurteilungen unserer Ansicht nach nicht zu ihrem
Rechte gekommen ist; es ist das die Gefahr, welche den deutschen Interessen
drohte, wenn 1870 die Neutralen, also das „Europa“, welches Herr von
Beust vermißte, in dem deutsch-französischen Streit interveniert wären. Die
Möglichkeit dazu lag von Beginn des Krieges an vor, und die Verwirk-
lichung der Einmischung nach den deutschen Siegen scheiterte nur an dem
Mangel an Einverständnis zwischen den großen Mächten. Wir glauben
kaum, daß eine der letzteren zur Intervention geneigt gewesen wäre, wenn
Deutschland Niederlagen erlitten hätte und zu einem nachteiligen Frieden
genötigt gewesen wäre. Die Abneigung aber, Deutschland die volle Frucht
der Siege seiner Heere pflücken zu sehen, war ziemlich allgemein; den außer-
deutschen Mächten war die volle Konsequenz der deutschen Siege, die Her-
stellung eines kompakten deutschen Reiches nämlich, wie es heute besteht, keine
erwünschte. Die Möglichkeit der Einmischung der Neutralen, ja die Wahr-
scheinlichkeit derselben wurde von der deutschen Diplomatie sofort ins Auge
gefaßt, nachdem die ersten deutschen Siege die Möglichkeit eines vorteilhaften
Friedensschlusses in Aussicht zu nehmen erlaubten. Diese Einmischung konnte
von den Schlachten von Wörth und Spichern bis zum Abschluß mit Frank-
reich im Jahre 1871, und selbst nach dem letzteren an jedem Tage eintreten,
um Deutschland in seinem Siegeslauf und in dessen Ausnutzung zu hemmen
und vor die Notwendigkeit neuer europäischer Kämpfe zu stellen, bevor irgend