158 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Oktober 29.—30.)
Reichsbote die Erwiderung als hauptsächlich gegen die Reden des
Grafen Douglas und des Herrn von Benda gerichtet ausgibt, suchen
die freisinnigen Parteiorgane ihr eine gegen die Kartellpresse über-
haupt gerichtete Spitze zu geben. So bemerkt z. B. der Berliner
Börsen-Kurier:
„Die Kartellpresse ist in klägliche Verwirrung geraten durch die An-
sprache, welche Kaiser Wilhelm am Sonnabend an die Begrüßungs-Depu-
tation der Stadt Berlin gerichtet hat. Die Organe der Kartellparteien
winden sich vergeblich, um den Worten Kaisers Wilhelms eine andere Deu-
tung zu geben, als ihnen der von uns gegebenen Erklärung nach innewohnt.
Der Versuch, den Worten des Kaisers eine Deutung zu geben gegen die frei-
sinnige Partei und Presse, müßte, wäre er nicht gar zu lächerlich, als eine
Majestätsbeleidigung frechster Art erscheinen, denn jene Auslegung will dem
Kaiser ansinnen, daß ihm, dem Sohne, das seinem Vater gespendete Lob
unangenehm in den Ohren klinge. Kaiser Wilhelm ist, was sich von selbst
versteht, ein pietätvoller Sohn, und wer seinen Vater rühmt, spricht ihm
aus dem Herzen. Wenn man den vor Angst blöde gewordenen Organen der
Kartellparteien glauben dürfte, wäre es in Zukunft gar nicht mehr erlaubt,
den Namen Kaiser Friedrichs zu nennen und von Kaiser Friedrich in Worten
der Liebe und Ehrerbietung zu reden. Ganz abgesehen davon, daß sich der-
gleichen nicht verbieten läßt, daß das deutsche Volk unter keinen Umständen
sich das verbieten lassen würde, liegt auch dem pietätvollen Sinne Kaiser
Wilhelms nichts ferner, als ein derartiger Wunsch, der nur aus einem kartell-
zerfressenen Hirn, nur aus einem kartellverwüsteten Herzen entspringen konnte."
29. Oktober. (Kaiser Wilhelm in Friedrichsruh.) Auf
der Rückreise von Hamburg macht der Kaiser dem Reichskanzler
einen Besuch in Friedrichsruh; den zweiten im Laufe weniger Monate
(vgl. Gesch. Kal. S. 115). Der Kaiser trifft am Abend daselbst ein
und verweilt dort bis zum nächsten Tage, wo er nach Potsdam
zurückkehrt.
30. Oktober. (Kaiser Wilhelm und Herr von Giers.)
Die „Nordd. Allg. Ztg.“ bringt (in französischer Sprache und
deutscher Übersetzung) das von Kaiser Wilhelm an den russischen
Minister des Auswärtigen, Herrn von Giers, zu dessen 50jährigem
Dienstjubiläum gerichtete Glückwunschtelegramm nebst dessen Antwort:
„Ich ergreife mit besonderer Genugtuung die Gelegenheit, welche der
Jahrestag, den Ew. Excellenz heute feiern, Mir bietet, um Ihnen Meine
besten Glückwünsche zu senden und in Ihnen den sicheren und zuverlässigen
Vermittler der amtlichen und persönlichen Beziehungen zu begrüßen, die
Mich an Meinen teuren Freund und nahen Verwandten, Se. Majestät den
Kaiser Alexander, binden. (gez.) Wilhelm.“
Herr von Giers hat darauf geantwortet:
„Tief gerührt durch das gnädige Zeichen des Wohlwollens, das Ew.
Kaiserliche Majestät heute hierhergelangen zu lassen geruht, bitte ich Ew.
Majestät, zu erlauben, daß ich zu Ihren Füßen die Huldigung meiner tiefen
Dankbarkeit niederlege. Ich bin glücklich, durch das Vertrauen meines er-
habenen Souveräns dazu berufen zu sein, Vermittler der freundschaftlichen