162 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Nov. 1. Hälfte.)
liner freisinnige Presse.) Die Erklärung des „Reichsanzeigers“,
daß die Berliner Rede des Kaisers als gegen die freisinnige Presse
gerichtet aufzufassen sei, ruft bei dieser die einstimmige Entgegnung
hervor, kein wie immer gearteter äußerer Einfluß vermöge ihren
unabhängigen Standpunkt zu erschüttern. So bemerkt das Ber-
liner Tageblatt, auch die städtischen Behörden besäßen keinerlei Ein-
fluß auf die hauptstädtische Presse. Darauf entgegnet die „Nord-
deutsche Allgemeine Zeitung“:
„Bisher wurde allgemein angenommen, daß die angesehenen Partei-
häupter des Freisinns, welche dem Berliner Magistrat und der Stadtver-
waltung angehören, hinter der freisinnigen Presse ständen und einen bedeu-
tenden, erklärlichen, ja vom Parteistandpunkte aus ganz gerechtfertigten Einfluß
auf die freisinnige Presse ausübten. — Trifft dies nicht zu, sind die Häupter
des Berliner Freisinns überhaupt nicht in der Lage, das Berliner Tageblatt
und dessen publizistischen Troß zu beeinflussen, so verliert die demokratische
hauptstädtische Presse alle Bedeutung; sie hat dann keine Berechtigung, sich
als Vertreterin einer großen Partei zu gerieren, sondern vertritt nur die An-
sichten einzelner Personen, nämlich der betreffenden Redakteure. Wir haben
nicht mit den fortschrittlichen Blättern zu rechten, wenn sie sich auf diese
Weise vermindern wollen.“
Der Vorwurf, den das „Berl. Tagbl.“" daraus herzuleiten versucht,
daß „bei Leibzeiten Kaiser Wilhelms I. dessen persönliche Überzeugungen
zu Gunsten der Regierungsmaßnahmen öffentlich geltend gemacht worden
seien", beweise nur die Unkenntnis des genannten Blattes mit unserem Ver-
fassungsrecht. „In der preußischen Verfassung, welche das bei uns giltige Recht
enthält, hat der Inhaber der Krone eine sehr reale Macht, die unter An-
derem darin besteht, daß ohne seine Zustimmung kein Gesetz zu stande kom-
men kann. Ein preußischer König muß seine persönlichen Überzeugungen
haben und dieselben müssen öffentlich geltend gemacht werden. Das galt
nicht nur für die Regierungszeit Kaiser Wilhelms I., es galt auch für die
Kaiser Friedrichs und gilt für die Kaiser Wilhelms II. Es ist bekannt, daß
Kaiser Friedrich zunächst nicht gesonnen war, dem von dem Abgeordneten-
und dem Herrenhause angenommenen Gesetzentwurf wegen Verlängerung der
Legislaturperioden seine Zustimmung zu erteilen. Dem Staatsministerium
fiel es damals nicht ein, deshalb zurückzutreten. Die Allerhöchste „Über-
zeugung", welche nicht nur den Ministern, sondern auch öffentlich geltend
gemacht wurde, war — wie dies unserem Verfassungsrecht entspricht — ent-
scheidend. Das öffentliche Geltendmachen der Allerhöchsten Überzeugung des
Monarchen war daher keine Eigentümlichkeit der Regierungszeit Kaiser
Wilhelms I.; dasselbe liegt in unserer Verfassung und ist aus derselben
nicht herauszubringen.“
1. Hälfte des November. (Preßstimmen über den Ausfall
der Landtagswahlen.) Zu dem Ausfalle der Landtagswahlen,
bemerkt die „Post“, wirkten eine Reihe von Umständen zusammen:
„In erster Linie darf in dieser Beziehung die weitgehende Beruhigung
und Befriedigung bezeichnet werden, welche die Besetzung des Ministeriums
des Innern und des Vizepräsidiums des Staatsministeriums, die Ernennung
Herrn von Bennigsens zum Ober-Präsidenten und die Erledigung des Falles
Harnack hervorgerufen haben. Ergänzend traten die Reden von Graf Dou-
glas und Herrn von Benda hinzu, um die Wahlen unter der Herrschaft