Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Nov. 1. Hälfte.) 163
einer festen zuversichtlichen befriedigten Stimmung der Wählerschaften vor
sich gehen zu lassen. Dadurch ist der radikalen Opposition der Boden in
weitem Umfange abgegraben worden, und der erwartete und vorzeitig bereits
eskomptierte Erfolg hat sich in eine klägliche Niederlage verwandelt. Der
gemäßigte und nicht oppositionelle Liberalismus hat so, namentlich im Westen
und in den neuen Provinzen, dem radikalen und oppositionellen Liberalismus
ein weiteres erhebliches Feld abgewinnen können. Vor allem aber ist die
beruhigte und befriedigte Stimmung der Wählerschaften dem Besitzstande zu
Gute gekommen, und zwar dem mittelparteilichen nicht mehr als dem deutsch-
konservativen."“
Die „National-Zeitung“ hebt als wichtigste Folge der Neu-
wahlen hervor, daß den Nationalliberalen eine erhöhte Verant-
wortlichkeit für die Wahrung der liberalen Überlieferungen unseres
Staatslebens zugefallen ist.
„Je mehr die Deutschfreisinnigen zurückgehen, je mehr das Vertrauen
der Liberalen im Lande sich wieder den Nationalliberalen zuwendet, um so
mehr müssen und, wie wir überzeugt sind, werden sich diese jener Verant-
wortlichkeit bewußt sein. In einem Organ der Regierung wurde jüngst
bemerkt, die liberale Weltanschauung sei in unserem öffentlichen Leben bereits
durchgedrungen. So weit es sich um die Grundanschauungen und um die
wichtigsten Einrichtungen desselben handelt, kann man dies zugeben; die Ver-
kehrtheit der fortschrittlichen Politik liegt in der Tat hauptsächlich darin,
daß ihre Vertreter sich beständig geberden, als ob unsere Staatseinrichtungen,
etwa wie vor dem Jahr 1848, im schärfsten Gegensatz zu den politischen An-
schauungen der Bevölkerung ständen, während diese nichts von einem solchen
Widerspruch empfindet.“ Dennoch aber sei es notwendig, daß die liberale
Staatsauffassung eine entschlossene Vertretung finde. Allerdings dürfe man
hoffen, daß der verstärkten nationalliberalen Fraktion diese Vertretung „inner-
halb der Mehrheit aus Nationalliberalen und gemäßigten Konservativen mög-
lich sein wird, welche im vorigen Landtag bestand und in dem neuen wieder-
gekehrt ist, daß in dieser die Ausgleichung der liberalen und der konservativen
Ansichten angesichts der einzelnen parlamentarischen Aufgaben erreichbar
sein wird“
„Weil wir die Bekämpfung der einer solchen Ausgleichung feindlichen,
den Verzicht auf die liberalen Anschauungen fordernden äußersten Rechten
für eine der Aufgaben der jüngsten Wahlbewegung erklärt, aber daraus
keineswegs die Folgerung eines Bündnisses mit den Deutschfreisinnigen ge-
zogen hatten, spottete diese über einen angeblichen Widerspruch zwischen Zweck
und Mittel der nationalliberalen Wahltaktik. Er war nicht vorhanden,
denn wir wollten trotz des Strebens nach Verstärkung der Nationalliberalen
an dem parlamentarischen Zusammenwirken mit den gemäßigten Konservativen
festhalten. Damit war ein Messen der Kräfte in einer Anzahl Wahlkreise
— und zwar noch mehr behufs erneuter Sammlung der gemäßigten Liberalen
in manchen Landesteilen, als in der Erwartung großer unmittelbarer Erfolge
— wohl verträglich. Deshalb ist die Bekämpfung der Konservativen auf
eine ruhige Ermittelung des Maßes von Widerspruch, welches in einer Anzahl
Wahlkreise gegen das Verbleiben der Mandate im konservativen Besitze bestand,
beschränkt worden. Durfte man doch keinen Augenblick vergessen, daß bei
den nächsten Reichstagswahlen wahrscheinlich wieder ein geschlossenes Zusam-
mengehen der beiden Parteien notwendig sein wird. Die Möglichkeit des-
selben wird allerdings u. a. von dem Auftreten der Konservativen im Reichs-
tag während des Restes seiner Legislaturperiode abhängen."
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