Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

14 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 27.—30.) 
lässigkeit derselben nur durch Richterspruch erklärt werden und ihre Ver- 
hängung nur durch die Zentralbehörde der Einzelstaaten erfolgen könne. End- 
ich hätte noch die Verlegung der Agitation ins Ausland einer Strafbe- 
stimmung bedurft. Der Staat könne nicht ruhig zusehen, wie jenseits seiner 
Grenzen an seiner Zerstörung gearbeitet werde, daher schlage der Entwurf 
die Bestrafung der Beteiligung an Sozialisten-Kongressen vor. 
Die Debatte beginnt mit einer Rede des Sozialdemokraten 
Singer: 
Die Regierung habe sich von vornherein sagen müssen, daß ein Gesetz, 
welches auf Polizeiwillkür beruht, wirkungslos sein müsse, besonders gegen 
die hohen, heiligen Ideen, wie sie die Sozialdemokratie vertrete. Den Mittel- 
punkt der Rede bilden Enthüllungen über die in der Schweiz verhafteten 
angeblichen Sozialisten Schröder, Haupt und v. Ehrenberg, preußischer Haupt- 
mann a. D. Singer legt vor und verteilt gedruckte Mitteilungen der Po- 
lizei und der Untersuchungsrichter in Zürich und Schaffhausen, woraus nach 
den Geständnissen der Beschuldigten und der Zeugenaussagen hervorgeht, daß 
jene drei wie viele andere im Dienste der Berliner Polizei standen, in Ver- 
sammlungen zur „Propaganda der Tat“ aufforderten und selbst die Ver- 
breitung und den Druck der „Freiheit“ betrieben. Es geht ferner daraus 
hervor, daß Schröder auch mit Stellmacher, Kammerer, Penkert und Neve 
in Verbindung stand. Nach Ehrenbergs Verhaftung habe man in dessen 
Papieren eine Denkschrift über die Sozialdemokratie gefunden, welche unter 
anderm für nötig erklärt, die Juden aus den Reihen derselben zu entfernen, 
weil sie für die friedliche Entwicklung eintreten und auf den Sieg des Par- 
lamentarismus hoffen. Redner schließt daraus, daß die preußische Polizei, 
das System Puttkamer, erst die Verbrechen züchte, gegen welche es vorgehe. 
Das Berliner Polizei-Präsidium stehe an der Spitze einer internationalen 
Spitzelgesellschaft, um zu Verbrechen aufzureizen um das Bürgertum gruselig 
zu machen. Wir sind, sagt Singer, allerdings im Kampfe gegen die be- 
stehende Staats= und Gesellschaftsordnung, weil wir diejenigen, welche die 
Güter erzeugen, auch zum Genusse der Lebensgüter bringen wollen, aber auf 
friedlichem Wege. Die Einführung der Expatriierung sei ein Rückschritt zum 
Mittelalter, welches die Reichsacht der Todesstrafe gleichstellte. Die Bestim- 
mung des Gesetzentwurfes gegen die Beteiligung an Versammlungen im Aus- 
lande sei eine juristische Monstrosität. Die Sozialdemokraten seien Gegner 
des Anarchismus, und ihre Führer haben sich als solche sogar in dem ihnen 
zum Vorwurfe gemachten Telegramme für die Begnadigung der Chicagoer 
Verurteilten bekannt, welches sie nur als Gegner politischer Todesurteile 
unterzeichnet hatten. Was die Regierung den Arbeitern als Ersatz für poli- 
tische Rechte biete, die ganze Sozial-Reform, sei lediglich eine Almosengesetz- 
gebung. In einem Moment, wo man vor der Gefahr eines europäischen 
Krieges stehe, wolle man die größte Volksklasse, die Arbeiter, aufs schwerste 
bedrücken. 
Preuß. Min. v. Puttkamer antwortet: daß die deutsche Sozialdemo- 
kratie das Gefühl für Recht und Unrecht verwische und auf die Massen einen 
unheilvollen Einfluß ausübe. Mit großer Entrüstung tritt Redner den Ent- 
hüllungen Singers über die Polizei entgegen. Kein Kulturstaat könne auf 
die Geheimpolizei verzichten, obschon er, Redner, zugebe, daß der Dienst in 
derselben kein Ehrendienst, und daß die Leute, welche die Regierung dazu 
namentlich im Auslande benütze, keine Gentlemen seien; doch sei es eine ten- 
denziöse Verdächtigung, daß die Regierung Verbrechen anstifte, um unter 
deren Druck drakonische Maßregeln zu verhängen. Redner verteidigt den be- 
kannten Schutzmann Ihring, gegen welchen sehr fragwürdige Zeugen auf- 
geführt wurden. Es sei demselben ausdrücklich aufgegeben worden, sich jeder
	        
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