Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 27.—30.) 15
Provokation zu enthalten und passiver Zuschauer zu bleiben. Auch in der
Schweiz halte die Regierung gegen Entgelt Leute zur Beobachtung des Anar-
chismus, und zu den Erfolgen dieses Systems gehöre unter anderm, daß die
preußische Polizei die Petersburger Polizei von dem bevorstehenden Attentat
im Winterpalais benachrichtigen konnte. Von den von Singer mitgeteilten
Fällen wisse Redner nichts. Übri sei das Material über Schröder durch
einen von den Sozialisten ausgeführten räuberischen Ueberfall in die Hände
Singers gelangt. Es werfe ein trauriges Licht auf den Rechtszustand in
dem Lande, wo dies geschehen konnte, wie es auch ein sonderbarer Friedens-
richter sei, welcher während der schwebenden Untersuchung zweien beliebigen
ausländischen Abgeordneten von notorischem Ruf so oft Mitteilungen aus
den Akten mache. Redner werde vom Reichskanzler verlangen, daß gegen
ein solches Vorgehen Protest erhoben werde. Jedenfalls könne in Preußen
ein solcher Untersuchungsrichter nicht vorkommen. — Redner erklärt, er
würde sich schämen, so zu handeln, wie jener Schweizer Untersuchungsrichter.
Puttkamer bestreitet diesen Mitteilungen jeden Wert und bleibt dabei, von
jedermann den Glauben zu verlangen, daß die preußische Regierung keine
Agents provocateurs unterhalte. Zur Sache selbst betont Redner die loyale
Handhabung des Sozialistengesetzes. Auch sei die sozialistische Presse nicht
unterdrückt, wofür die Existenz von 38 sozialdemokratischen Blättern zeuge,
sondern nur zur Mäßigung ihres Tones gezwungen worden. Die beantragte
Expatriierung sei zwar hart, aber angebracht gegen Personen, die sich außer-
halb der rechtlichen und sittlichen Ordnung stellen. Redner geht alsdann
auf die Beschlüsse des sozialistischen Parteitages in St. Gallen ein, die er
als revolutionäre kennzeichnet. Er brandmarkt das Begnadigungsgesuch für
die Chicagoer Verurteilten als Sympathie für bestialische Mordbrenner und
behauptet, trotz äußerer Fehde seien Sozialdemokraten und Anarchisten geistig
eng verwandt. Das Sozialistengesetz habe bornall einen Stillstand der
Sozialdemokratie herbeigeführt. Unter 700.000 ihr bei den letzten Wahlen
zugefallenen Stimmen seien nicht lauter überzeugte Sozialdemokraten, son-
dern der Partei strömten alle überhaupt unzufriedenen Elemente zu. Übri-
gens lägen wichtige Anzeichen dafür vor, daß die Bewegung bereits ihren
Höhepunkt überschritten habe und abschwellen werde, wie viele andere. Redner
ist gegen alle Uebergangsbestimmungen oder Ersetzung des Gesetzes durch Ab-
änderung des Strafgesetzes. Auf diesem Boden sei die Lösung ohne die
schwerste Einschränkung der allgemeinen Freiheit nicht möglich. Deshalb
glaubt Redner nicht, daß irgend ein Reichstag die Verantwortung auf sich
nehmen könnte, durch Verweigerung der Verlängerung der Regierung das
Schwert zum Schutze des allgemeinen Wohles zu entreißen. Dagegen gibt
Redner zu, daß gegen die Verschärfungen mannigfacher Widerspruch erhoben
werden könne; er verteidigt dieselben auch ziemlich lau mit dem bekannten
Argument, daß sich die Sozialdemokratie außerhalb der bestehenden Staats-
und Weltordnung stelle. Die Verschärfung der Preßverfolgung begründet
Redner damit, daß eine Haupttätigkeit der Agitatoren die Verbreitung des
ruchlosen Züricher Blattes „Sozialdemokrat“ sei. Die beantragte Expatriie-
rung sei unter den Rechtsschutz des Richterspruches gestellt. Humanität sei
ein schöner Begriff, wahre Humanität verlange aber von den die Verant-
wortung tragenden Regierungen, Deutschland vor den Schrecknissen einer so-
zialen Revolution zu bewahren. Gewähre der Reichstag die Expatriierung,
so werde die Wirkung keine schädliche, sondern eine ersprießliche sein.
Am 2. Verhandlungstage verteilen die Sozialdemokraten die mit dem
Züricher Polizeihauptmann Fischer gepflogene Korrespondenz. Dieselbe be-
steht aus folgenden Stücken: