Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

18 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 27.—30.) 
ßische Polizei das bevorstehende Attentat gegen das Winterpalais rechtzeitig 
nach Petersburg mitteilen. Daß die schweizerischen Behörden auf das bloße 
Verlangen zweier Privatleute aus dem Auslande, deren Ruf doch wohl no- 
torisch ist, Auskunft über ein schwebendes Verfahren geben, sei doch höchst 
wunderbar, und er werde beim Reichskanzler verlangen, daß gegen ein solches 
unverantwortliches Verfahren bei der Schweiz protestiert werde. 
Nachdem der sächsische Bundesbevollmächtigte Generalstaatsanwalt 
Held für das Gesetz eingetreten ist und erklärt hat, die Verschärfung der 
Strafen auf Verbreitung sozialistischer Druckschriften sei unentbehrlich, die 
Expatriierung aber betrachteten die verbündeten Regierungen für milder als 
die Internierung, würden vom Reichstage die Verschärfungen abgelehnt, so 
müsse man sich weiter quälen, spricht Bamberger (ds.) gegen die Vorlage. 
Min. v. Puttkamer erwidert sehr heftig und beschuldigt Bam- 
berger, er sekundiere den Sozialdemokraten, weil der Freisinn von ihnen bei 
den Wahlen abhinge. Richter (ds.) ruft: „Was wären Sie ohne den Reichs- 
kanzler?" v. Puttkamer: „Ich sehe es als ehrenvolle Aufgabe an, ein 
treuer Gehilfe der nationalen Politik des Reichskanzlers zu sein. Um selb- 
ständige große Politik zu treiben, bin ich zu bescheiden angelegt.“ Mar- 
quardsen (nl.) erklärt im Namen seiner Partei, „daß wir das Gesetz, wie 
es steht, auf zwei Jahre zu verlängern wünschen, daß dann aber freie Hand 
sein soll, in welcher Weise wir die Frage weiter gestalten können“. Diese 
Frist sei notwendig, da „weder die Vorbereitungen bei den Regierungen noch 
auch bei den mitwirkenden Kräften im Reichstage hier genügend vorhanden“ 
seien. Er halte es für nicht unmöglich, daß nach Ablauf dieses Termins 
entweder ein dauerndes Spezialgesetz formuliert werden könne oder daß sich 
eine „Rückkehr in den Namen des gemeinen Rechts“ erreichen lasse. Was 
die eventuelle Verschärfung des Gesetzes durch Expatriierung betreffe, so scheine 
ihm der Hinweis auf die Analogie des Gesetzes betr. die Ausweisung von 
Geistlichen bedenklich. Während diese unter Umständen im Auslande bereit 
willigste Aufnahme fänden, würde man sich überall gegen das Festsetzen von 
Sozialdemokraten, als den Bekämpfern der in allen Kulturländern bestehenden 
Staats= und Gesellschaftsordnung, lebhaftest sträuben. „Ich halte dafür, daß 
mit dem modernen Völkerrecht ein solches Verfahren nicht in Einklang zu 
bringen ist, und ich würde Sie warnen, auf eine Praxis in dieser Richtung 
sich einzulassen."“ 
Am dritten Tage spricht Bebel (Soz.) in dreistündiger Rede gegen 
das Gesetz. Er stellt darin u. a. die Petition für die Chikagoer Anarchisten 
mit Bismarcks Eintreten für den Aufschub der Hinrichtung der bulgarischen 
Hochverräter in Parallele, beschuldigt den deutschen Adel der Vergangenheit 
blutiger Gräuel und nennt den gegenwärtigen nur eine Ruine, die aus alter 
Zeit noch in die Gegenwart hineinrage. Eine deutsche Prinzessin habe den 
Zaren Peter III. ermordet, Gustav III. von Schweden und Zar Paul I. 
seien Adelsverschwörungen erlegen. Dann wendet er sich gegen die Härte des 
neuen Gesetzesvorschlages und kritisiert die Rechtsprechung des Reichsgerichts, 
welches ihn zu 9 Monaten Gefängnis verurteilt habe, nachdem er von 4 Ge- 
richtshöfen freigesprochen worden. Er sei verurteilt worden bloß wegen Abonne- 
ments des „Sozialdemokraten“. Herr v. Puttkamer sei auch Abonnent, er 
werde wohl mit ihm auch einmal vereint nach Plötzensee wandern. Die 
Polizeiräte Krüger und Hacke seien nach der Erklärung Puttkamers tüchtige, 
in die Intentionen Puttkamers und des Kanzlers eingeweihte Beamte. Der 
Minister widerspricht nicht, also setze ich seine Zustimmung voraus. (Heiter- 
keit rechts.) Nun, ich behaupte, daß Krüger und Hacke Agents provoca- 
teurs in der Schweiz engagiert und bezahlt haben, und zwar um in der 
Schweiz Attentate hervorzurufen und das Asylrecht zu diskreditieren. Um
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.