272 Die Österreichisch-Ungarische Monarchie. (Sept. 1. Hälfte u. 1.—2.)
1. Hälfte September. (Österreich: Abstinenz-Politik.)
Die deutsch-böhmischen Abgeordneten erklären, daß sie dem Landtage
auch weiter fernbleiben werden und daß die im verflossenen Winter
auf Anregung der Gegner eingeleiteten Ausgleichsverhandlungen
seitens der Deutschen wegen mangelnden grundsätzlichen Entgegen-
kommens der Mehrheit des böhmischen Landtages abgebrochen
wurden.
1. September. (Österreich: Besuch der Kaiserin von
Rußland.) Kaiser Franz Joseph begibt sich von Panzing aus
zum Besuche der Kaiserin von Rußland nach Gmunden.
2. September. (Österreich: Jungtschechisches Meeting.)
Die jungtschechischen Abg. Blazek, Engel, Gregr und Herold halten
auf dem Dorfplatz der Gemeinde Pischeli bei Fulr ein Meeting ab,
bei dem ca. 3.000 Menschen anwesend sind.
Eröffnet wird dasselbe durch Dr. Engel, der für das historische Recht
der St. Wenzelskrone eintritt. „Wer die frühere Macht des Königreiches
Böhmen kennt, der muß mit Entrüstung die Zumutung zurückweisen, daß
die tschechische Sprache der deutschen nachstehen solle.“ (Rufe: Pereat Mattusch!)
Der Hauptredner des Tages ist Abg. Gregr. Er sagt u. a.: „Stets
müssen wir dessen eingedenk sein, daß das Königreich Böhmen ein unzer-
trennliches Ganzes, ein selbständiges Land und keine Provinz ist, zu welcher
man es herabzudrücken sucht. Böhmen hat sein Staatsrecht, welches be-
kräftigt wurde durch die Eide aller unserer Könige. Weiters muß die höchste
Autonomie des Landtages erwirkt werden. Die Tschechen müssen sich die-
selbe Stellung erwirken, wie die Magyaren. Die Tschechen werden immer
mehr bedroht, vom Deutschtum verschlungen zu werden. Es gibt nicht das
kleinste Dorf, wo nicht das Ohr durch deutsche Worte entheiligt würde.
Alles ist von fremden Elementen so durchsetzt, wie von Trichinen. Sind die
Deutschen auf ihren Nachbar im Westen stolz, können wir mit Recht auf
unsere Blutsverwandten im Osten hinweisen, von dessen mächtigem Stamme
wir der mächtigste Ast sind. (Beifall.) Geben wir unsere Lohndienerei auf,
begnügen wir uns nicht mit Brosamen, dann wird, dann muß es besser
werden." (Langanhaltender Beifall, Hochrufe auf Gregr.)
Sodann meldet sich zum Worte der Antisemit Huschek. Gregr schreit
erregt: Wir brauchen keine Antisemiten! Es entsteht ein Tumult. Huschek
wird schließlich von den Abgeordneten umringt und von der Lehne der Redner-
bühne zurückgedrängt. Er schreit: „Das ist ein schöner Liberalismus So
wahrt man die Redefreiheit!“
Schließlich wird eine Resolution einstimmig angenommen, in welcher
den unabhängigen Abgeordneten das Vertrauen votiert, die Erwirkung des
Staatsrechtes und ein energisches Vorgehen gegen die Regierung verlangt wird.
Infolge des Beifalls, den die Parole der Jungtschechen: tschechischer
Staat mit tschechischer Staatssprache, Krönung des Königs, tschechisches Staats-
recht, bei der Versammlung gefunden, sieht sich der alttschechische Abg. Rieger
veranlaßt, namens der Vertrauensmänner der tschechischen Landtags-Abge-
ordneten einen tschechischen Parteitag „aller autonomen Vertreter in Böhmen“
für den 16. September nach Prag einzuberufen. Insbesondere werden zu
diesem Parteitage eingeladen: der Bürgermeister und die Stadträte zu Prag,