Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

Italien. (Juli 18.—Ende.) 355 
18. Juli. (Kammer.) In fortgesetzter Beratung des Gesetz- 
entwurfes über die Provinzial= und Kommunal-Reform genehmigt 
die Kammer mit 173 gegen 136 Stimmen die Anwendung des 
Prinzips der verhältnismäßigen Vertretung der Minoritäten bei 
den administrativen Wahlen, nachdem Ministerpräsident Crispi er- 
klärt hatte, daß die Regierung in dieser Frage neutral bleibe. 
19. Juli. (Kammer.) In Beantwortung der Anfragen 
Chialas erklärt Ministerpräsident Crispi, 
daß in Abessinien Thatsachen von solcher Bedeutung sich vollzogen 
haben, daß hiedurch das Einvernehmen mit Italien verzögert wurde, näm- 
lich der Tod des Sohnes des Negus und die Macht der Derwische, die immer 
zunimmt und die Abessinier lebhaft beeinflußt. Er glaube dennoch, daß 
man ein neuerliches Einvernehmen anstreben könne, um ein praktisches und 
ehrenhaftes Resultat zu erzielen. In betreff Sansibars seien Deutschland 
und England in vollständigem Einvernehmen mit Italien, und sei demnach 
anzunehmen, daß die Sifeerenz ein rasches, würdiges und billiges Ende 
haben werde. Sodann beendet die Kammer die Verhandlung über den Gesetz- 
entwurf in betreff der Kommunal= und Provinzial-Reform; es wird der Ent- 
wurf unter dem Beifalle des Hauses in geheimer Abstimmung mit 269 gegen 
97 Stimmen angenommen. 
Ende Juli. (Afrikanische Kolonialpolitik.) Die „Agenzia 
Stefani“ veröffentlicht ein Resumee der vom Ministerpräsidenten 
Crispi betreffs Massauah an die Vertreter Italiens im Auslande 
gerichteten, zur Mitteilung an die betreffenden Regierungen be- 
stimmten Noten. 
Danach wird in der einen Note unter Hinweis auf die bezüglichen 
Verhältnisse in Bosnien, der Herzegowina, Cypern, Bulgarien und Tunis 
ausgeführt, daß, selbst wenn die Annahme der französischen Regierung von 
dem Fortbestehen der Kapitulationen in Massauah richtig wäre, daraus doch 
für Italien keine Verpflichtung fließen würde, die ausländischen Unterthanen 
oder Schutzbefohlenen in Massauah ohne Einwilligung ihrer Regierungen der 
Leistung von Munizipalsteuern nicht zu interziehen. Das der Türkei und 
Aegypten gegenüber bestandene Recht der Kapitulationen habe aber jedenfalls 
aufgehört, als Italien Massauah in Besitz genommen und dort eine regel- 
rechte Verwaltung eingesetzt habe, welche alle für die Ordnung und die Un- 
parteilichkeit der Behörden wünschenswerte Garantien biete. In einer zweiten 
Note wird nachgewiesen, daß die juridische Lage in Massauah genau dieselbe 
sei, wie an anderen hunkten der Ostküste Afrikas. Auch seien Italien nicht 
etwa von der Türkei Reklamationen zugegangen, sondern wie immer nur von 
Frankreich, welches dann auch noch Griechenland zur Erhebung von Rekla- 
mationen zu bestimmen gewußt habe — von Frankreich, das, wie es scheine, 
in den friedlichen Fortschritten Italiens eine Verringerung der eigenen Macht 
erblicke. Der große afrikanische Kontinent biete doch hinreichenden Raum 
für eine legitime Thätigkeit und den civilisatorischen Ehrgeiz aller Mächte 
Die Okkupation Massauahs trage durch die Verhältnisse, unter denen sie 
vollzogen habe, und dadurch, daß alle durch die Berliner Konferenz ge' 
derten Bedingungen erfüllt worden seien, alle juridischen Merkmale e 
legitimen und unbestreitbaren Besitzergreifung an sich.
	        
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