Rußland. (November Anf. —1. Hälfte.) 385
Hofzuges entgleisten. Der Kaiser wurde leicht am Fuße, die Kai—
serin an der Hand verletzt. Mehr als 20 Personen wurden ge-
tötet und noch mehr schwer verwundet.
Es wird alsbald eine Kommission eingesetzt, die die Ursachen
des Vorfalles aufhellen solle. Der Verkehrsminister Posset erhält
den Abschied.
Anfang November. (General Gurko) hält bei einem zu
Ehren des Grafen Schuwaloff gegebenen Festessen eine Rede, in der
er sagt:
» „Jedermann bei unsern Nachbarn ist Rußland feindlich, die Presse und
die öffentliche Meinung. Man verspottet das russische Heer. Und doch
könnten wir, wenn es der Zar befiehlt, in 24 Stunden beide Grenzen über-
schreiten und der Welt zeigen, daß wir sehr wohl die Wege kennen, die nach
Berlin und Wien führen.“
Monat November. (Rußland und die Kurie.) Der Zar
sendet einen Spezialgesandten, Iswolski, nach Rom, der die Er-
richtung einer russischen Vertretung beim Vatikan anbahnen soll.
Derselbe wird alsbald vom Papst in Privataudienz empfangen. —
Die „Nordd. Allg. Ztg.“ bemerkt zu den russisch-vatikanischen Ver-
handlungen offiziös folgendes:
„Eine Verständigung zwischen Rußland und der Kurie entspricht den
deutschen Interessen und könnte uns nur angenehm sein. Rußland und
Preußen haben gemeinsame Interessen, so daß Zugeständnisse, welche der
Papst an Rußland machte, auch uns zu gute kommen müßten, während eine
ausgesprochene antirussische Stellung des Papsttums auch Ausstrahlungen
nach Preußen werfen würde. Der Friede mit Rom ist auf beiden Seiten
der russisch-deutschen Grenze erwünscht, und die Störung jenes Friedens auf
der einen Seite würde notwendig auf der anderen eine Rückwirkung ausüben."“
Den übertriebenen Hoffnungen katholischerseits indessen, die
an diesen Schritt geknüpft werden, tritt ein St. Petersburger Brief
der „Pol. Korr.“ entgegen, welcher ausführt:
die Verhandlungen mit der Kurie bezweckten nur eine Vereinbarung
über bestimmte kirchliche Fragen und hätten keineswegs, wie behauptet worden
sei, einen Anschluß des Vatikans an Rußland zum Ziel. Bedeutendere Zu-
geständnisse an den Vatikan seien unmöglich, da die Hervorkehrung der Ortho-
doxie ein Grundpfeiler der russischen Politik sei.
Unterm 28. wird dann dem Reuterschen Bureau aus Rom
gemeldet:
„Nach Besprechungen zwischen Kardinal Rampolla und dem russischen
Bevollmächtigten Iswolsky hat der Papst der russischen Regierung die Her-
stellung diplomatischer Beziehungen nach dem mit Deutschland adoptierten
Systeme vorgeschlagen, nämlich, daß ein russischer Gesandter beim Vatikan
beglaubigt werde, ohne daß ein Nuntius nach St. Petersburg geschickt wird.“
1. Hälfte November. (Anleihe.) Es wird bekannt, daß der
Finanzminister in Paris unter der Vertretung einiger dortiger
Europ. Geschichtskalender. XXIX. Bd. 25