Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

Kebersicht der politischen Entwickelunz des Jahres 1888. 423 
herigen Dienste aussprach und ihm im Anschluß daran die Re- 
gierungsgrundsätze, nach denen in Zukunft zu verfahren sei, vor- 
schrieb. Wie viel in der Ausführung dieses Schreibens als Geff- 
ckens geistiges Eigentum zu betrachten ist, wie viel als des Kaisers 
Friedrich selbst, wie viel anderer — denn es haben noch mehrere 
Personen daran mitgearbeitet — ist nicht festgestellt, auch natur- 
gemäß nicht so scharf zu scheiden.“) 
Die hoffnungslose Erkrankung des Kronprinzen im Frühling 
des Jahres 1887 ließ es sehr fraglich erscheinen, ob er seinen 
Vater überleben und zur Regierung gelangen werde. Seit dem 
Sommer 1887 weilte er außerhalb Deutschlands, zuletzt in San 
Remo an der Riviera, wo am 9. Februar der Luftröhrenschnitt 
hatte ausgeführt werden müssen, der den zukünftigen Herrscher 
stimmlos machte. In diesem Zustande, den Tod vor Augen, er- 
reichte ihn das Telegramm, das ihm verkündigte, daß ihn die 
Vorsehung noch für das letzte Abendrot seines Lebens zum Herrn 
des mächtigsten Reiches der Erde berufe. 
Er war entschlossen, sich diesem Rufe, auf den er sich so lange 
und sorgsam vorbereitet hatte, nicht zu entziehen. Er verließ die 
milde Frühlingsluft des sonnigen Italien und eilte hinauf in seine 
nordische Hauptstadt; bis nach Leipzig kam ihm das gesamte Staats- 
ministerium entgegen; in einem wilden Schneesturm hielt er seinen 
Einzug in das Schloß von Charlottenburg, wo er seinen Wohnsitz 
aufschlug. Die Proklamation „An Mein Volk“ verbunden mit 
dem Brief an den Reichskanzler schienen die Regierung, so traurig 
die ganze Nation auf das hoffnungslose Leiden des Kaisers blickte, 
glücklich zu inaugurieren und dem Gang der Regierung so feste 
und sichere Bahnen vorzuschreiben, daß man trotz aller Sorge zu- 
versichtlich wie bisher den weiteren Fügungen des Schicksals für 
Deutschland entgegenblicken konnte. 
Die zukünftige Geschichtsschreibung, welche einmal den dop- 
pelten Regierungswechsel des Jahres 1888 in Deutschland betrachet, 
wird zunächst verweilen bei den ungeheuren Gegensätzen, unter denen 
*) Meine Ansicht von den politischen Anschauungen Kaiser Friedrichs 
ist eingehender dargelegt in meinen „Persönlichen Erinnerungen an Kaiser 
Friedrich und sein Haus"“. Berlin, Georg Reimer.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.