Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

424 Mebersicht der peolitischen Eutwichelnnz des Jahres 1888. 
sich die Abwandelung vollzog: ein Staatsmann von traditioneller, 
einzig dastehender Autorität; ein neuer Kaiser von Selbstbewußtsein 
und großen Thaten des Kriegs und Friedens, der über alle mensch- 
liche Wahrscheinlichkeit hinaus hatte zurückstehen müssen, jetzt aber 
gelähmt von unheilbarer Krankheit; hinter ihm wiederum ein 
Nachfolger, von dem Volk und Ausland noch nicht wußte, was es 
von ihm zu erwarten hatte. Der Schauplatz: ein Verfassungsleben, in 
dem die Individualität des Monarchen von ausschlaggebender Be- 
deutung ist; ein Bundesstaat, noch kein Menschenalter bestehend; 
die allgemeine europäische Politik von einer Spannung, die jeden 
Augenblick eine Explosion besorgen läßt. Sollte die zukünftige Ge- 
schichtschreibung nicht mit einem gewissen Tone des Erstaunens einst 
darstellen, daß ein solches Jahr ohne Erschütterungen an Deutsch- 
land vorübergegangen ist? Die Empfindung der Gegenwart aber 
ist dies nicht gewesen. Der Sommer war erfüllt von Unruhe und 
peinlichen Zwischenfällen, deren Genesis entweder in Dunkel ver- 
hüllt geblieben ist oder, wo es vielleicht möglich wäre, etwas 
zu sagen, doch besser noch im Dunkeln bleibt. Was die Oeffent- 
lichkeit mit Recht oder Unrecht bewegte und was für Meinungen 
sich in der Presse bekämpften, ist aus unserem Kalendarium zu 
ersehen. 
Die bedeutendste Thatsache, in der die politischen Grundsätze 
Kaiser Friedrichs sich manifestierten, war die Entlassung des Mi- 
nisters des Innern von Puttkamer. Auch in Kreisen der Kartell- 
parteien, wo man das strenge Regiment Puttkamers bisher ge- 
billigt hatte, hatte sich doch schon zu Lebzeiten Kaiser Wilhelms I. 
die Meinung gebildet, daß nun bald eine Wendung zu größerer 
Milde erforderlich werde und daß deshalb die Tage des Mini- 
steriums Puttkamer gezählt seien. Auch von dem Reichskanzler 
nahm man vielfach an, daß er einem Wechsel in dieser Stellung 
geneigt sei. Wenn Kaiser Friedrich überhaupt seine persönlichen 
politischen Anschauungen zur Geltung bringen wollte, so mußte es 
in erster Linie hier geschehen. Nichts schien also natürlicher und 
wurde von Anfang an so sehr erwartet, als die Entlassung Putt- 
kamers. Warum sie sich trotzdem erst ganz kurz vor dem Tode 
des Kaisers und unter Umständen, die die öffentliche Meinung von
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.