Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 9.) 55
und fast Sterbebettes“. Um Mittag sprach Se. Majestät den Wunsch aus,
den Reichskanzler zu sehen, erörterte mit demselben die politische Lage und
richtete Worte des Dankes und der Anerkennung an den Fürsten Bismarck.
Späterhin nahmen Fieberphantasien in den Gedanken und Worten des Kai-
sers einen größeren Teil ein, die Kräfte und Stimme gingen allmählich
zurück. Als gegen 5 Uhr nachmittags Se. Majestät der Kaiser Sich schwächer
fühlte, versammelten sich die Königliche Familie und deren hier anwesende
Verwandte am Krankenbette. Der Reichskanzler, der General-Feldmarschall
Graf Moltke, der Kriegs- und der Haus-Minister, die Chefs des Militär-
und des Zivil-Kabinets, die maison militaire und der engere Hof, sowie
die persönliche Dienerschaft befanden sich im Sterbezimmer. Die Leibärzte
unterstützten den Kaiser, welcher, die Hand Ihrer Majestät der Kaiserin hal-
tend, die Frau Großherzogin von Baden und den Prinzen Wilhelm in un-
mittelbarer Nähe hatte. Auf Wunsch Sr. Majestät trat der Ober-Hofpre-
diger Kögel an das Lager und sprach Worte des Trostes und gläubiger Zu-
versicht. Mit schwacher, aber deutlicher Stimme wiederholte der Kaiser einige
derselben, indem Er sie als Ihm besonders teuer und wahr bestätigte. Gegen
halb 6 Uhr abends trat ein Augenblick großer Schwäche ein, welche das
Äußerste befürchten ließ. Über alles Hoffen aber erholte sich der Kaiser.
Er erkannte allmählich die Mitglieder Seiner Familie, fragte nach dem Ge-
neral-Feldmarschall Grafen Moltke und rief dann den Prinzen Wilhelm in
Seine unmittelbarste Nähe. Mit meist deutlich vernehmbarer Stimme sprach
der Kaiser eingehend mit Demselben; erst nachdem Er längere Zeit geredet,
mischten sich Fieberphantasien in Seine Worte. Der Kaiser begann damit,
dem Prinzen Wilhelm von der Armee und Preußens gesamtem Volk zu
sprechen. Er berührte im Verfolg Seiner Worte unsere Allianzen, dann
mögliche Kriege der Nachbarvölker und einzelne militärische Einrichtungen
derselben, welche Se. Majestät in der letzten Zeit besonders beschäftigt hatten.
Im Verlauf des Abends vermochten die Kräfte sich nicht zu heben; in ab-
gebrochenen Worten sprach der Kaiser vielfach von den Truppen und von
Erinnerungen der Feldzüge, Er nannte einzelne Ihm bekannte Namen. Um
3 Uhr am Morgen des 9. März war die gesamte Königliche Familie und
die Umgebungen wiederum am Krankenbette versammelt. Der Kaiser ver-
mochte noch Seinen nächsten Verwandten die Hand zu drücken. Ohne zu
leiden, verlebte Er die folgenden Stunden in nur teilweise bewußtem Zu-
stande. Unter den Gebeten des Ober-Hofpredigers und den Tränen der um
Sein Sterbelager Versammelten ist Se. Majestät der Kaiser und König um
8 Uhr 30 Minuten des Vormittags des 9. März sanft und ohne Kampf
zum ewigen Frieden eingegangen.
Die allgemeine über die ganze Welt verbreitete Teilnahme,
welche sich in unzähligen Beileidsbezeugungen und Trauerkund-
gebungen offenbart, prägt dem Ereignisse den Stempel eines einzig-
artigen, nie zuvor erlebten auf. Die Volksvertretungen aller be-
freundeten Staaten schließen beim Eintreffen der Trauerbotschaft
ihre Beratungen; die Erörterung aller politischen Fragen in der
Öffentlichkeit verstummt fast in ganz Europa, es tritt eine von
einem österreichischen Blatte treffend als „Gottesfriede“ bezeichnete
Stille ein. Besonders tief ist die Bewegung in den verbündeten
Ländern Österreich-Ungarn und Italien, deren Herrscherfamilien,
höhere Behörden, Städte, Presse und das gesamte Volk in über-