Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 6.—Mitte.) 81 
Gewähr ist gegeben, daß dieselbe so bald nicht wieder hervortreten werde; 
denn jeder, der etwa versucht sein könnte, sie wieder aufzurühren, weiß, was 
für Folgen dieser Versuch für ihn haben würde. Sonach ist also die Kanzler- 
krise zwar nicht für immer beseitigt, aber sie ruht. Wir wollen es unserm 
Kaiser und seiner Gemahlin ewig Dank wissen, daß sie in dieser herben und 
gefahrvollen Prüfung die oberste Tugend des Herrscherberufes geübt haben, 
indem sie das Wohl des Reiches über alle persönlichen Wünsche stellten und 
so vom deutschen Volke eine Sorge nahmen, die es tief bedrückte. 
„Die Hamburger Nachrichten“ berichten zur Ergänzung der 
obigen Nachricht: 
„Erheblich zur vorläufigen Aufschiebung der Kanzlerkrisis sollen, — 
so wird der Rheinisch-Westfälischen Zeitung unter dem 13. aus Berlin ge- 
schrieben — Frhr. v. Roggenbach, Dr. Rudolf v. Bennigsen und der Groß- 
herzog von Baden beigetragen haben. Es ist nicht richtig, wenn behauptet 
wird, der erstere sei auf den Rat der Kaiserin zugezogen worden, welche den 
früheren badischen Minister in San Remo habe schätzen lernen. Herr 
v. Roggenbach hat in San Remo mit der Kaiserin nicht beraten, sondern 
nur mit dem Kaiser. An seine Berufung an Bismarcks Stelle wurde in der 
Kaiserlichen Familie allerdings gedacht, doch fasste Herr v. Roggenbach seine 
Mission für jetzt in anderem Sinne auf. Interessant wird es sein, früher 
oder später näheres darüber zu erfahren, welche Stellung andere Persönlich- 
keiten der Frage gegenüber eingenommen haben, ob sie eventuell geneigt 
gewesen, an des Kanzlers Stelle zu treten. Daß u. a. Fürst Hohenlohe- 
Schillingsfürst und Graf Hatzfeld, unser gegenwärtiger Botschafter in London, 
sondiert worden seien, wird aufs glaubwürdigste versichert. Um in der Be- 
urteilung der augenblicklichen Lage nicht fehl zu gehen und auch die einst- 
weilige Beilegung der Krisis nicht falsch zu verstehen, ist es gut, Ursache 
und Veranlassung der letzteren auseinander zu halten. Die Ursache liegt in 
der bekannten Verschiedenheit der deutschen und englischen Auffassung von 
der Stellung und dem Berufe des Monarchen und dem Verhältnis des ersten 
Beraters der Krone zu dem Träger derselben, die Veranlassung in dem 
Battenbergischen Verlobungsprojekt der Königin von England. Die Ver- 
anlassung ist beiseite geschoben. Dabei glaubt man, daß der Entschluß der 
Kaiserin wesentlich auf den Umstand mit zurückzuführen ist, daß das Befinden 
des Kaisers sich erheblich verschlechtert hat." 
6. April. (v. Bennigsen) wird der Rote Adlerorden erster 
Klasse verliehen. 
Mitte April. (Reise der Kaiserin zu den Überschwem- 
mungsgebieten der Provinz Posen.) Die „Nordd. Allg. Ztg.“ 
schreibt über eine Episode dieser Reise: 
„Die Damen der polnischen Aristokratie haben die Reise Ihrer Majestät 
der Kaiserin nach Posen in einer Weise fruktifiziert, welche, wie die Aus- 
lassungen der gesamten nationalen Presse ergeben, im ganzen Lande Unwillen 
erregt hat. Ihre Majestät empfing in Posen eine Deputation von Damen 
unter der Führung der Gräfin Honorina Kwilecka. Die Gräfin, obwohl der 
deutschen Sprache völlig mächtig, richtete an die Kaiserin eine französische 
Ansprache, in welcher — und auch dies ist charakteristisch — nicht von 
Preußinnen, sondern von den Polonaises die Rede ist. Eine solche Demon- 
stration verdient, zumal unter den Umständen, unter denen sie in Szene 
gesetzt worden ist, in der Tat die schärfste Verurteilung.“ 
Europ. Geschichtskalender. XXIX. Bd. 6 
 
	        
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