Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfter Jahrgang. 1889. (30)

20 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 26.) 
existieren, gut, — dann habe ich mich geirrt, dann ziehe ich mich zurück 
und trete zurück. Ich bin weit entfernt, meine persönliche Ansicht, meine 
Neigung, unter Umständen an den Degen zu greifen, als eine Aufforderung 
für das Reich und die Gesamtheit zu betrachten; ich ordne mich der Mehr- 
heit meiner Nation und deren berechtigten Vertretern absolut unter in diesen 
Fragen, so lange ich nicht die Angst und das Gefühl habe, daß sie auf 
einem abschüssigen Wege ihrem Schaden entgegeneilt. Dann würde mein 
Widerstand nur mit meinem Leben endigen; hier aber liegen Fragen der 
Art ja nicht vor. Hat der Reichstag das Gefühl, daß die Interessen des 
deutschen Reichs, seine Ehre, — ich mag kaum so hoch greifen, wie dieser 
Ausdruck trägt; seine Flagge, will ich sagen, — hierbei uninteressiert sind, 
und dispensiert er mich von der weiteren Verfolgung, so ist das ja für mich 
eine außerordentliche Erleichterung meiner Geschäfte, unter deren Last ich 
beinahe erliege. 
Der Herr Abgeordnete Richter hat damals getadelt, daß wir Beamte 
in Afrika anstellen, daß wir Garnisonen dort hinlegen, Kasernen, Häfen 
und Forts bauen. Das alles hat nicht stattgefunden und geht uns auch 
nichts an; ich habe den Gedanken, daß die Gesellschaft die Herrin dort 
bleibt; der Kaiser kann unmöglich an Stelle der Gesellschaft Pächter des 
Sultans von Sansibar werden. Die ganzen Erwerbungen jenseits des sansi- 
barischen Küstengebiets, die früher von verschiedenen Privatleuten gemacht 
worden sind und uns nichts weiter einbrachten, als ein schwer lesbares 
Stück Papier, das mit Negerkreuzen eine Anweisung auf Tausende von 
Meilen gab, die zu erwerben wären, die können uns ja weiter nichts helfen; 
aber der Küstenbesitz ist von außerordentlich großem Belang. Der Küsten- 
besitz ist von der Gesellschaft erworben worden, und das ist meines Erach- 
tens eine deutsche Errungenschaft, welche nicht ohne Nützlichkeit ist. Ohne 
den Küstenbesitz wäre alles, was dahinter erworben ist, nutzlos geblieben; 
mit dem Küstenbesitze aber kommen wir in die Lage, denjenigen Pflichten, 
die wir mit unserem Eintritt in den afrikanischen Besitz überhaupt über- 
nommen haben, den kulturellen Pflichten zu genügen mit anderen großen 
Nationen, wie England, Frankreich, Italien. Dort der Kultur, der christ- 
lichen Kultur, in die Hände zu arbeiten, — dieser Möglichkeit kommen wir 
näher; nur von der Küste aus kann die Zivilisation in das Binnenland 
übergehen. 
Ob sie das sofort thut, das weiß ich nicht. Da gilt auch die Frage: 
„Muß es gleich sein?“ wie es in einer bekannten Anekdote heißt, die mir 
da immer entgegentritt. Es ist die Unterlage einer Zukunftspolitik. Auf 
dem Standpunkt, auf dem ich stehe, kann ich nicht nur den nächsten Don- 
nerstag im Auge haben; ich muß an Jahrzehnte, an die Zukunft meiner 
Landsleute denken; ich muß daran denken, ob man mir nicht nach 20, nach 
30 Jahren den Vorwurf machen wird, daß dieser furchtsame Kanzler da- 
mals nicht die Kourage gehabt hat, uns jenen Besitz zu sichern, der jetzt ein 
guter geworden ist. Da kann ich doch nicht ohne weiteres den deutschen 
Bürger von der Thür wegweisen, der sagt: ich habe das erworben. Er 
kann mir nicht beweisen, daß es nützlich wäre für das Reich; ich kann ihm 
aber auch nicht beweisen, daß es ihm schädlich ist. Es ist, was ich neulich 
sagte, eine Mutung, die sich vielleicht verwerten läßt; und wer von einer 
Kolonie in drei Wochen oder drei Jahren ein glänzendes Resultat erwartet, 
der mag Reden halten; aber er ist kein Mensch von Urteil. (Sehr richtig! 
rechts. Heiterkeit.) Die Frage ist die, ob wir in 10, in 20, in 30 Jahren nicht 
vielleicht bereuen würden, den Besitztitel, der uns jetzt geboten wird, verschmäht zu 
haben. (Sehr richtig!) Da habe ich nicht den Mut, ihn herauszuweisen, nament- 
lich wenn er für den Preis, der uns jetzt dafür abgefordert wird, zu haben ist.
	        
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