Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfter Jahrgang. 1889. (30)

70 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 16.) 
es habe eine Untersuchung in Rheinfelden stattgefunden. Die (vom 
„Reichs-Anzeiger“ veröffentlichten) Behauptungen Wohlgemuths seien un- 
wahr. Vielmehr war die ihm angewiesene Gefängniszelle neu hergestellt, 
hell, mit Ventilation und Luftheizung versehen und war täglich geheizt. 
Das Bett war vorher noch nicht benutzt, enthielt eine neue Matratze, frisches 
Bettzeug, zwei neue und zwei ältere, aber gut erhaltene, saubere Wolldecken. 
Die Kost war gut und hinreichend und wurde nicht in hölzernem, sondern 
in weißem irdenen Geschirr verabreicht. Die Behandlung Wohlgemuths 
war höflich und standesgemäß; die gegenteilige Behauptung Wohlgemuths 
ist eine Unwahrheit, ebenso diejenige betreffend den Schlüsselbund. Bei der 
Entlassung erklärte Wohlgemuth auf Befragen, in Gegenwart von Zeugen, 
in jeder Beziehung seine vollständige Zufriedenheit mit der Kost und Be- 
handlung. 
16. Mai. (Der Kaiser empfängt eine Deputation 
der Grubenbesitzer) des Rheinkohlendistrikts. Die Rede, welche 
er an dieselben richtet, lautet nach Wolffs Telegraphenbureau: 
„Meine Herren! Ich habe Ihnen die Audienz gestattet, weil es 
selbstverständlich Sache des Monarchen ist, daß, wenn Seine Unterthanen in 
Streitigkeiten unter einander der Verständigung bedürfen, und sie sich dann 
vertrauensvoll an das Staatsoberhaupt wenden, dann beide Parteien gehört 
werden. Ich habe die Arbeiter vorgestern gehört und freue Mich, Sie heute 
bei Mir zu sehen. Was die Ursache des Streiks betrifft und die Mittel zur 
Beseitigung desselben, so erwarte Ich darüber noch eingehende Berichte 
Meiner Behörden. Mir kommt es hauptsächlich darauf an, in Anbetracht 
der weitreichenden Schädigung der gesamten Bevölkerung, welche der Strike 
zur Folge hat, und nachdem ein zweiter Strike bereits in Schlesien, über- 
tragen aus Westfalen, im Ausbruch begriffen ist, möglichst bald dem großen 
westfälischen Streike ein Ende zu machen: Was Ich den Arbeitern gesagt 
habe, das wissen die Herren; es hat gestern überall in den Blättern gestan- 
den; Ich habe darin Meinen Standpunkt in aller Schärfe gekennzeichnet. 
Die Arbeiter haben Mir übrigens einen guten Eindruck gemacht, sie haben 
sich der Fühlung mit der Sozialdemokratie enthalten. Daß die Worte, die 
Ich zu ihnen gesprochen, in den Arbeiterkreisen Westfalens Anklang gefun- 
den haben, ist Mir durch Telegramme bezeugt, und habe Ich Mich gefreut, 
daß Einmischungsversuche der Sozialdemokratie von ihnen mit Energie ab- 
gewiesen worden sind. Die Verhandlungen, die Sie, Herr Hammacher, als 
Vorsitzender des Vereins, wie Ich gern höre, mit der Arbeiter-Deputation 
geführt haben, sind Mir durch das Ministerium des Innern zugegangen, 
und Ich spreche Meine Anerkennung aus für das Entgegenkommen, das Sie 
den Arbeitern gezeigt haben, wodurch die Grundlage zu einer Verständigung 
gewonnen worden ist. Ich werde Mich freuen, wenn auf dieser Basis sich 
Arbeitgeber und Arbeiter vereinigen werden. Ich möchte von Meinem Stand- 
punkte aus noch eins betonen. Wenn die Herren etwa der Ansicht sind, 
daß die von Mir gehörten Deputierten der Arbeiter nicht die maßgebenden 
Vertreter der Kreise wären, die dort striken, so macht das nichts aus. Wenn 
sie auch nur einen Teil der Arbeiter hinter sich haben und die Meinung 
wiedergeben, die in ihren Kreisen besteht, so wird doch immer der moralische 
Einfluß des Versuchs der Verständigung von hohem Werte sein. Sind sie 
aber wirklich die Delegierten derselben und haben sie die Ansicht der gesam- 
ten westfälischen Arbeiter vertreten, und sind sie dann mit den Punkten, die 
Sie ihnen eröffnet haben, einverstanden, dann habe Ich zu dem gesunden 
und vaterländischen Sinn dieser Männer das Vertrauen, daß sie und
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.