Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenter Jahrgang. 1891. (32)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (September 27.) 111 
25. September. Das russische Kaiserpaar passiert Berlin 
nach einem mehrwöchentlichen Aufenthalt in Kopenhagen, auf der 
Reise nach Moskau zur Beisetzung der Großfürstin Alexandra. Auf 
ausdrücklichen Wunsch der hohen Reisenden findet keinerlei Em- 
pfang statt. 
27. September. Der Reichskanzler General v. Caprivi be- 
sucht in Osnabrück gelegentlich der 25jährigen Jubelfeier des In- 
fanterie-Regiments Herzog Friedrich Wilhelm von Braunschweig 
(Ostfriesisches) Nr. 78, dessen Chef er ist, auf Einladung der Stadt 
Osnabrück den Friedenssaal des Rathauses, in welchem 1648 über 
den Westfälischen Frieden verhandelt wurde. Auf die Begrüßung 
des Bürgermeisters erwidert der Reichskanzler mit einer Ansprache, 
in welcher er nach einem Berichte der „Kölnischen Zeitung“ zunächst 
die Freude äußert, daß seine militärische Stellung ihm Gelegenheit 
gebe, im Friedenssaale zu sein. Der Rückblick in die Vergangen- 
heit zeige, was die Gegenwart errungen; die Befürchtungen, ob der 
gegenwärtige Zustand erhalten werde, seien nicht begründet. Keiner 
der Regierenden habe den Wunsch, den Frieden zu stören und einen 
europäischen Krieg hervorzurufen. Auch die Annäherungen der 
Staaten in der neuesten Zeit gäben keinen Grund zu Befürchtungen; 
sie seien nur der Ausdruck schon vorhandener Verhältnisse; vielleicht 
seien sie nichts anderes als die Feststellung eines europäischen Gleich- 
gewichts, wie es früher bestanden habe. Keine der europäischen 
Regierungen wolle, soweit er es zu übersehen vermöge, den Krieg, 
der in seinen Leiden und Folgen alle früheren Kriege voraussicht- 
lich übertreffen würde. Auch die Verhältnisse im Innern, um 
welche Se. Maj. der Kaiser stets bemüht sei, würden zu einem be- 
friedigenden Abschluß führen, wennschon vielleicht erst nach Jahr- 
zehnten. In der wichtigsten Frage sei die Regierung sowohl eine 
Regierung der Arbeiter als eine der Arbeitgeber. Wenn es den 
Arbeitgebern schlecht gehe, hätten die Arbeiter zunächst darunter zu 
leiden. Es werde auch unter der Osnabrücker Stadtvertretung 
Männer geben, denen die Ueberleitung in die jetzigen Verhältnisse 
schwer geworden sei; allein diese Herren dürften nicht mit ihren 
Herzen, sondern müßten mit dem Verstande rechnen und dann die 
Notwendigkeit der jetzigen Verhältnisse erkennen. Schließlich wies 
der Reichskanzler auf diejenigen Männer hin, die sich um die Ueber- 
leitung in der Gegenwart verdient gemacht hätien, und hob insbe- 
sondere die Verdienste des anwesenden Oberpräsidenten v. Bennigsen
	        
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