Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenter Jahrgang. 1891. (32)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Nov. 8.—10.) 133 
Verkehrs und zu verträglichem, hochgesinntem Zusammenwirken der verschie- 
densten Richtungen dauernd zu entnehmen. 
Je reifer und reiner sie das Ideal der Geistesbildung zu verwirk- 
lichen strebt, desto sicherer wird sie dies erreichen nach dem goldenen Spruche: 
Didicisse fideliter artes emollit mores nec sinit esse feros.“ 
8. November. Ein nativdnalliberaler Parteitag für 
Westpreußen findet in Graudenz statt unter Teilnahme der Ab- 
geordneten Hobrecht und Dr. Krause. 
Abg. Hobrecht führt aus, in unferm politischen Leben sei die Zer- 
splitterung der Fraktionen so groß, daß die Bertreter des Volks nicht den 
legitimen Einfluß ausübten, der ihnen zustehe. Redner wendet sich dann 
der Bekämpfung der Polen zu. Durch kleine Gefälligkeiten, wie man die- 
selben jetzt den Polen erweise, würden dieselben nicht in preußische Staats- 
bürger umgewandelt werden. Die nationalliberale Partei werde einstimmig 
für die Handelsverträge eintreten, denn ihr Wert liege darin, daß sie auf 
längere Zeit feste Verhältnisse schaffen und Schutz gewähren gegen die Be- 
gehrlichkeit der einzelnen. Man werde ihm wohl nicht widersprechen, wenn 
er behaupte, daß der ideale Schwung, der in unserem politischen Leben früher 
geherrscht, heute nicht mehr vorhanden sei. Es sei eine Zeit des Mißmutes 
und des mangelnden Vertrauens. Es sei dringend wünschenswert, daß unser 
Volk sich zu kräftiger, politischer Thätigkeit aufraffe, das gelte auch ganz 
besonders für Westpreußen. Die nationalliberale Partei wolle sich deshalb 
eine feste Organisation in Westpreußen schaffen und darauf hinwirken, daß 
ein frischer liberaler Zug in unser Staatsleben hineinkomme. Abgeordneter 
Dr. Krause meint, das Verhalten der Regierung gegen die Polen könne die 
nationalliberale Partei nicht billigen, dieser Weg führe zum Unheil für uns 
Deutsche. Mit den Polen Hand in Hand gehe das Zentrum. Wenn die 
Regierung das Volksschulgesetz nach den Wünschen dieser Partei gestalte, 
würde die nationalliberale Partei nicht in der Lage sein, demselben zu- 
stimmen zu können. Herr Krause spricht mehrfach von der „freisinnigen 
Schwesterpartei“. Die nationalliberale Partei bekämpfe unbedingt die Polen, 
das Zentrum und die Sozialdemokratie. Mit den übrigen Parteien wolle 
sie, wenn möglich, in Frieden leben. 
10. November. (Berlin.) Eröffnung der dritten ordent- 
lichen Generalsynode durch den Präsidenten des evangelischen 
Oberkirchenrats Dr. Barkhausen mit folgender Rede: 
„Hochwürdige, hochgeehrte Herren! 
Kraft des von Seiner Majestät dem Kaiser und König mir über- 
tragenen Amtes habe ich die Ehre, Sie beim Eintritt in Ihre Arbeit hier 
zu begrüßen. 
Seitdem zuletzt die Generalsynode hier versammelt war, hat Gott in 
seinem unerforschlichen Ratschlusse unser Vaterland und unsere Kirche ernste 
Wege geführt. 
Mit tiefer Wemut wendet sich unser Blick auf den Tag zurück, an 
welchem es dem Allmächtigen gefallen hat, den Begründer unserer Kirchen- 
verfassung, den starken Schirmherrn unserer Kirche, den glaubenstreuen, 
heilsgewissen Bekenner unseres Herrn und Heilandes, unseren vielgeliebten 
Kaiser und König Wilhelm I. zu Seinen Vätern zu versammeln. Sein 
Leben ein Segen — ein Segen sein Gedächtnis. 
Nur eine kurze Spanne Zeit war es dem Teilhaber Seines Ruhmes, 
dem Erben Seiner Tugenden, unserem teueren Kaiser Friedrich, als Held