Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (November 27.) 155
wärtigen Regierung wie viel unter der vorigen Regierung gethan ist,
ist bekannt — man nicht geschlafen hat. Sie haben uns im vorigen Jahre
18,000 Mann Präsenzstärke mehr gegeben, als wir bisher hatten. Wir sind
in diesem Jahre an Sie herangetreten mit einem bedeutenden Wunsch zur
Verbesserung des Kriegsmaterials, und ich kann vielleicht sagen, daß ich nicht
für wahrscheinlich halte, daß wir damit die Ausbildung und den Ausbau
unserer Organisation für abgeschlossen halten. (Bewegung.)
Man hat in der Welt sich jetzt vielfach gewöhnt, Armeen nach ihrer
Zahl zu schätzen. Das ist auch wieder für Zeitungsschreiber und Leser ein
bequemes Mittel; es rechnet da einer vor: die Franzosen haben 5,400,000
und ihr habt 4,500,000, folglich seid ihr schwächer als die Franzosen, folg-
lich beunruhigt euch! (Heiterkeit.) So liegt die Sache nun doch nicht. Für
die Leistungen einer Armee wird im Anfange eines Krieges immer die Qua-
lität der Truppe das Entscheidende sein, und erst wenn der Krieg zur Ver-
teidigung des eigenen Bodens in die Länge gezogen wird, wenn er zu einem
Krieg aufs Messer wird, dann wird auch die Ouantität der Truppe nach
und nach zur Geltung kommen. Ich glaube nicht, daß unter den lebenden
Heerführern einer da ist, der im stande wäre, diese Massen, mit denen zu
rechnen man sich jetzt gewöhnt hat, zu ernähren, zu bewegen uud zu gemein-
samem Schlagen zu bringen. Das ist bei solchen Zahlen ausgeschlossen.
Es hat also diese Zahl an sich, selbst wenn sie aus lauter guten Soldaten
zusammengesetzt wäre, ihr Bedenkliches. Dieses Bedenkliche steigt nun aber
noch, wenn man die Oualität dieser so und so viel Millionen — denn unter
Millionen rechnet kein Staat mehr, der etwas auf sich hält — wenn man
die Qualität dieser Soldaten ansieht.
Meine Herren, es ist ja nichts leichter, wenn Frankreich ein Gesetz
gibt, worin es mehrere Altersklassen wehrpflichtig macht und seiner Armee
in der einen oder anderen Form einverleibt, das auch zu machen, und durch
einen einzigen Akt der Gesetzgebung kann man die Sollziffer der Armee sehr
leicht in die Höhe bringen. Nur vergißt man dabei, daß diese Menschen,
durch die die Armee in die Höhe gebracht werden soll, zum größten Teil
Leute sind, die in anstrengenden Berufsarten ihre Kräfte bereits verloren
haben, und die durch eine sitzende Lebensweise unfähig gemacht sind, sich zu
bewegen die zum großen Teil nicht nur Väter, sondern auch Großväter sind.
(Heiterkeit.)
Es ist also dieses Rechnen mit den Zahlen nicht ganz unbedenklich,
und man empfindet das nicht bloß bei uns, sondern auch in Frankreich.
Man hat den Ausdruck dafür gefunden: la rage des nombres, die Zahlen-
wut. Ich meine also, wenn ein deutscher Zeitungsleser nun in seinem Leib-
blatte liest, daß an anderen Stellen mehr Soldaten aufgebracht werden, so
hat er keinen Grund, sich zu beunruhigen. Solange die deutsche Armee so
gut bleibt, wie sie jetzt ist, und abgesehen von dem Glauben an die Füh-
rung und Leitung der Armee durch meinen Allerhöchsten Kriegsherrn, durch
die verbündeten Monarchen, durch das preußische und die anderen deutschen
Kriegsministerien, habe ich den ganz bestimmten Glauben, daß es keine Na-
tion Europas gibt, die für die künftige Art der Kriegsführung so viele vor-
zügliche Eigenschaften mitbringt wie die deutsche. (Bravo!) Mir will scheinen,
daß die künftige Kriegführung immer mehr den Gang nehmen wird, daß es
auf Handlungen einzelner ankommt, Handlungen einzelner aber, die sich
freiwillig in Masse zusammenfassen müssen. Wir werden große Gefechte und
Schlachten erleben, wo in erster Linie nur wenige Offiziere noch da sind;
die wenigen werden nicht im stande sein, ihren Willen überall zur Geltung
zu bringen, — dann wird sich gerade in den entscheidendsten Momenten der
Mann selbst überlassen sein, und es wird sich dann fragen: hat er die Eigen-