Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenter Jahrgang. 1891. (32)

254 Italien. (November 3.) 
Man gibt sie mir oft zu lesen, sie reizen mich nicht, ich beurteile sie. In- 
dessen bin ich nicht Ihrer Meinung: daß in einem auf das allgemeine 
Stimmrecht gegründeten Volksstaate die Presse nicht der genaue Spiegel der 
öffentlichen Meinung sei. Und wenn es auch wahr wäre, daß sie nicht ihre 
Dolmetscherin sei, so werden Sie nicht bestreiten können, daß die Presse ge- 
waltig zur Bildung der öffentlichen Meinung beiträgt. Ich habe oft be- 
merkt, daß in Frankreich die Zeitungen in allen Fragen der internationalen 
Politik beständig einig sind, was in Italien nicht der Fall ist. Es ist dies 
eine Thatsache, welche ihren übertriebenen Patriotismus beweist und ihnen 
zur Ehre gereichen würde, wenn sie nicht die Ursache ihrer Verirrungen 
gegenüber dem Auslande wäre. Sie haben mich z. B. gedrängt, in den 
„Matinées Espagnoles“" vom 1. September den Artikel über Italien zu 
lesen. Wohlan — ich habe feststellen müssen, daß der Verfasser, wenn auch 
wohlwollend und umsichtig, mit Ironie von unseren nationalen Bestrebungen 
redet und über mich dieselben Irrtümer wiederholt, die ich so oft siegreich 
zurückgewiesen habe. Sie glauben, daß ich wegen meiner revolutionären 
Vergangenheit mehr als andere geeignet sei, die Bildung der Vereinigten 
Staaten Europas einzuleiten:? Wohl! Wenn der Mille eines einzelnen 
Mannes genügte, so würde ich die mir noch verbleibenden Kräfte an die 
Verwirklichung eines Planes setzen, dessen Triumph den Völkern des alten 
Weltteils für immer den Frieden sichern würde. Aber ich frage Sie: Würde 
das, was wir gründen wollen, eine Föderation von Monarchien oder von 
Republiken sein!? Oder von Monarchien und Republiken zusammen? In 
den ersten beiden Fällen nüßte mit einer Revolution begonnen werden, und 
Europa scheint mir nicht geneigt, uns zu folgen. Die Monarchien würden 
ablehnen, Republiken, und die Republiken, Monarchien zu werden. Im 
dritten Falle wäre die Sache einfacher, und es würde von Frankreich allein 
abhängen, ob unsere Anstrengungen Erfolg haben. Der Bund der drei 
Monarchien Italien, Oesterreich-Ungarn, Deutschland ist gebildet worden, 
um den Frieden des Weltteils zu gewährleisten, und er hat keinen Wunsch 
nach Eroberung. Er ist nunmehr der erste Kern der europäischen Kon- 
föderation. Wenn Frankreich wollte, könnte es sich den drei Mächten an- 
schließen, welche es mit Begeisterung in ihren Bund aufnehmen würden. 
Sein Beispiel würde ohne Zweifel von den anderen Nationen befolgt werden, 
und wir hätten ohne Mühe mit einem Schlage die Vereinigten Staaten 
Europas. Natürlich würde die allgemeine Entwaffnung, die Erleichterung 
der Budgets, diejenige der Steuerzahler die Folge sein. Dank dieser großen 
europäischen Union würde jeder Anlaß zum Uebergewicht eines Staates über 
den anderen aufhören und die Frage der Nationalitäten schnell und freund- 
schaftlich unter den Verbündeten erledigt werden. Es wäre eine Sache der 
inneren Organisation, nichts weiter. So nehme ich, wie Sie sehen, Ihren 
Plan an, und es wird gewiß nicht meine Schuld sein, wenn er nicht ver- 
wirklicht wird. Ihr ergebener Freund F. Crispi.“ 
3. November. (Rom.) Dieinterparlamentarische Frie- 
denskonferenz wird im großen Saale des Kapitols unter Teil- 
nahme von Mitgliedern fast sämtlicher europäischen Parlamente 
eröffnet. Unter den Parlamentsmitgliedern befinden sich 18 Fran- 
zosen, 12 Engländer, 15 Deutsche, 8 Oesterreicher und 4 Ungarn. 
Der Vize-Präsident des deutschen Reichstages Dr. Baum- 
bach spricht im Namen der Deutschen, Douville-Maillefeu im 
Namen der Franzosen.
	        
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