Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenter Jahrgang. 1891. (32)

Ungarn. 
316 NMebersicht der politischen Eutwichelung des Jahres 1891. 
zu vorsichtig, um sich so von seinen alten Freunden zu trennen 
und sich so gänzlich in die Hand der Liberalen zu geben. Indem 
er sich zu diesen freundlich stellte, suchte er doch auch wieder den 
Rest der alten Majorität unter Hohenwart zu einer kompakten 
Masse zusammenzufügen, und die Hoffnung der Deutschen, daß ihr 
Führer Herr v. Plener ins Ministerium berufen würde, ging nicht 
in Erfüllung. Erst gegen Ende des Jahres kam es wenigstens so 
weit, daß ein Mitglied der Fraktion, ein Aristokrat, der bisher wenig 
hervorgetreten war, Graf Küenburg, zum Minister ohne Portefeuille 
ernannt wurde. Die Jungtschechen, statt durch Mäßigung die 
Regierung wieder für sich zu gewinnen, trieben ihre Agitation nur 
immer wilder und fanatischer, und der Kaiser Franz Joseph hatte 
Gelegenheit, sich davon persönlich zu überzeugen, als er die Landes- 
ausstellung in Prag besuchte. So haben denn die Deutschen in 
Oesterreich endlich, freilich weniger durch ihr eigenes Verdienst, als 
durch die Fehler ihrer Gegner, einigermaßen die Stellung erreicht, 
die ihnen gebührt. Kaiser Franz Joseph aber und sein überaus 
geschickter Minister Graf Taaffe haben, indem sie ihnen diese Stellung 
gewährten, die Zügel der Regierung stramm in der Hand behalten. 
Die wirtschaftliche Arbeit wurde trotz der politischen 
Schwierigleiten wesentlich gefördert. Durch zwei langwierige Budget- 
beratungen gelang es zum erstenmal, den Staatsvoranschlag recht- 
zeitig für 1892 zu erledigen, und zwar mit kleinen Ueberschüssen. 
Die Schöpfung von Groß-Wien, d. h. die Einverleibung der Vor- 
orte in die Hauptstadt, die Eisenbahn-Verstaatlichungen (Albrecht- 
bahn, Karl Ludwigbahn, Prag-Dux und Dux-Bodenbach), die Er- 
richtung von Aerztekammern, die Einbeziehung Triests in das Zoll- 
gebiet, die Neuorganisation des Lloyd und die Handelsverträge mit 
Deutschland und Italien kennzeichnen ferner die Arbeitsleistung. 
Ungarn hat der politischen Welt ein merkwürdiges Schau- 
spiel geboten. Eine Regierung, die über eine große geschlossene 
Majorität gebietet, bringt ein Gesetz über Reform der Verwaltungs- 
organisation, Modernisierung der veralteten Komitatsverfassung ein, 
welchem die Majorität des Reichstages in allem wesentlichen Zu- 
stimmung entgegenbringt. Trotzdem gelingt es einer kleinen ra- 
biaten Minorität, das legislatorische Werk zu verhindern. Das
	        
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