Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenter Jahrgang. 1891. (32)

324 Uebersicht der politischen Entwichelung des Jahres 1891. 
ausschließlich den Russen zu gute. Gemeinschaftlich wirken beide 
der dauernden Festsetzung der Engländer in Aegypten entgegen, und 
namentlich ist es wichtig für Rußland, daß in dem alten Kampf 
zwischen orthodoxen und katholischen Christen im Morgenlande 
Frankreich von seinem traditionellen Patronat über die letzteren aus 
Russenliebe keinen rechten Gebrauch mehr zu machen wagt. Im 
Mai hat einmal wieder in der Geburtskirche in Bethlehem eine 
große Prügelei zwischen den Mönchen beider Konfessionen stattge- 
funden. Von der Energie, mit der jede Partei hier ihren über- 
lieferten Besitz festhält, hängt ihr moralisches Ansehen im ganzen 
Orient ab. Die Entscheidung muß in Konstantinopel gegeben wer- 
den, und sie wird gegeben je nach dem stärkeren Druck, den die 
Schutzmacht der einen oder der anderen Seite gerade ausübt. Ganz 
notwendig also, daß die orthodoxe Kirche und damit die Autorität 
Rußlands fortwährend gewinnt. 
An anderer Stelle haben die Unternehmungen Rußlands 
weniger Erfolg. Die wunderbare Widerstandskraft Bulgariens 
bewährt sich noch immer. Der Panslawismus hat einmal wieder 
zu seinem letzten, und man möchte sagen beliebtesten Mittel, dem 
Morde gegriffen. Man versuchte, den leitenden Staatsmann Bul- 
gariens, auf dessen persönlicher Tüchtigkeit wohl hauptsächlich die 
Zukunft dieses Landes beruht, Stambulow, aus dem Wege zu räu- 
men. Glücklicherweise entging er selbst der Gefahr; ein anderer 
Minister aber, der ihn zufällig begleitete, der Finanzminister 
Beltscheff, fiel unter den Kugeln der Verschworenen. Die Mörder 
entkamen, aber die Spuren des Verbrechens konnten bis in das 
russische Konsulat verfolgt werden. Darüber scheint man sich am 
russischen Hofe doch geschämt zu haben, und der Leiter aller dieser 
Bewegungen, der russische Gesandte in Bukarest, Hitrowo, wurde 
nach Lissabon versetzt. 
In Rumänien und Serbien oszillierte das Parteileben 
hin und her. In Serbien, wo es in so widerwärtiger Weise mit 
dem ehelichen Zwist zwischen König Milan und seiner Gemahlin 
verflochten ist, kam es zu überaus grotesken Szenen, als die Regent- 
schaft sich entschloß, um die Intriguen der Königin Natalie los 
zu werden, sie außer Landes zu schaffen. Nachdem alle Mittel, sie
	        
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