Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenter Jahrgang. 1891. (32)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 13.) 63 
solches Zeichen der Flagge ist mehr von imaginärem, als von realem Wert. 
Ich lese in einer Zeitung: 
Die Lage ist drüben eine so gespannte, daß die Anwesenheit eines 
deutschen Kriegsschiffes auch jetzt noch dringend erforderlich ist. 
Jetzt frage ich, um was wird die Lage weniger gespannt, wenn ein 
deutsches Kriegsschiff in Chile erscheint? (Sehr richtig! links.) In Chile ist 
ein Aufstand ausgebrochen, die Welt erlebt das seltene Schauspiel, daß die 
Aufständischen sich auf das Wasser begeben haben; die Regierung mit den 
Ihrigen befindet sich auf dem Lande. Diese beiden Teile bekriegen, bekämpfen 
und schädigen sich, so gut sie können. Chile ist ein Land, das eine Küsten- 
entwickelung von 4000 Kilometer hat. Auf diesen 4000 Kilometern eines 
schmalen Landstreifens wohnen drei Millionen Menschen, zum großen Teil 
in Küstenstädte zusammengeballt. Fast alle diese Küstenstädte haben gute 
Häfen und einen relativ entwickelten Handel. Fast überall sind bei dem 
Handel Deutsche beteiligt. Jetzt frage ich, wenn ein Kriegsschiff dahin geht, 
was nützt dieses eine Kriegsschiff auf einer so langen Küstenstrecke! Wie 
viel Städten kann es nützen: Kann es an zwanzig Orten auf einmal sein? 
Selbst das Kreuzergeschwader, wenn es hingegangen sein würde, und wenn 
es sich darauf eingelassen hätte, sich zu teilen, würde in der unangenehmen 
Lage gewesen sein, immer den bei weitem größten Teil dieser Häfen nicht 
besuchen zu können; und kein Mensch kann die Garantie übernehmen dafür, 
daß dann nicht gerade da, wo das Kreuzergeschwader nicht war, irgend ein 
Unglück einem Deutschen passierte. Wie will man aber nun weiter in einem 
solchen Kriegszustande, in einem solchen Aufruhr, in dem ein Land wie Chile 
sich befindet, vom Wasser aus einwirken? Die einen fangen an oder drohen 
vom Wasser, das Land zu beschießen; die anderen schießen vom Lande auf 
das, was vom Wasser kommt. Nun frage ich, was soll wohl ein deutsches 
Kriegsschiff dabei für eine Rolle spielen, wie soll es denn den Deutschen 
nützen? Es sind ja eine Reihe — mir sind drei Fälle bekannt — von Fällen 
vorgekommen, wo Schiffe Schaden gelitten haben oder Ersatzansprüche gemacht 
haben. Aber nach meiner Ueberzeugung, soweit mir Kenntnis von diesen 
Fällen geworden ist, würde in nicht einem einzigen die Anwesenheit eines 
deutschen Kriegsschiffes etwas geändert haben. Der flagranteste Fall ist der 
eines Schiffes „Potsdam“ — ich glaube, es ist ein Hamburger Barkschiff 
das hatte denn vor einer der chilenischen Städte gelegen, die die Aufrührerischen 
sich anschickten zu bombardieren. Sie fordern ganz höflich die Handelsschiffe, 
die da liegen, auf, das Lokal zu verlassen, weil es gefährlich würde (Heiter- 
keit); die sind auch sehr geneigt, dieser Weisung nachzukommen; sie nehmen 
sich gleich Schlepper, sie gehen los. Die Schlepper fangen an, die Schiffe 
herauszubringen. Dem, der das deutsche Schiff schleppte, wird die Sache 
etwas ängstlich, und er läßt das geschleppte Schiff vielleicht etwas zu früh 
vom Tau los; das ist noch nicht bewegungsfähig, läuft auf den Felsen und 
verliert unglücklicherweise Schiff und Ladung, eine Sachlage, in der die 
ganze deutsche Flotte vor demselben Hafen hätte liegen können, ohne etwas 
daran zu ändern, denn wir haben nicht die mindeste Berechtigung, uns in 
den Kampf dieser Leute einzumischen. Selbst wenn das Kreuzergeschwader 
die Kraft dazu hätte, so würde es kein Recht dazu haben. Was die Kraft 
angeht, so hat die chilenische Flotte einige gepanzerte Schiffe, wenn ich recht 
unterrichtet bin, zwei Panzer, ein Panzerfahrzeug und einige gepanzerte 
Kreuzer; sie haben auch ein Torpedoboot oder ein paar. Unser Kreuzer= 
geschwader besteht, wie alle solchen Geschwader, aus ungepanzerten Schiffen; 
also würde es ein ungleicher Kampf gewesen sein, wenn man, um das Schiff 
„Potsdam“ zu retten und herauszubringen, sich etwa in ein Gefecht mit der 
chilenischen Flotte hätte einlassen wollen. Es wäre auch nach meiner Ueber-
	        
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