Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwölfter Jahrgang. 1896. (37)

Das Veutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 5.) 13 
der europäischen stehen; denn die überseeische Politik sei ein Ausfluß der 
europäischen. Wir könnten nicht in Europa der Hort des Friedens sein 
und über See Händel suchen, das seit 25 Jahren gewonnene und erhaltene 
Vertrauen aller Nationen zu unserer Friedensliebe würde bald verloren 
gehen. Wohl aber müsse eine große Nation, wie die deutsche es sei, ent- 
schlossen und im stande sein, ihre überseeischen Interessen zu schützen, und 
dazu gehöre eine starke Kreuzerflotte. Es sei nicht wunderbar, daß jetzt 
alle Nationen mit überseeischen Interessen sich mit der Frage beschäftigen, 
ob ihr maritimes Rüstzeug genügend im stande sei. Denn in den letzten 
10 Jahren seien in überseeischen Gebieten große Veränderungen eingetreten, 
man brauche nur auf den Orient, Ostasien, Südamerika, Kuba und Afrika 
zu verweisen. Deshalb müßten auch wir uns die Frage vorlegen, ob wir 
angesichts der zukünftigen Eventualitäten, angesichts der Bedürfnisse in 
Gegenwart und Zukunft in der Lage sind, einen genügenden Schutz unserer 
überseeischen Interessen zu besitzen. Für die Herstellung eines solchen 
Schutzes werde die Nation auch die Mittel bewilligen. Das Bedürfnis an 
Kreuzern läßt sich nicht in fest bestimmten Formeln und Zahlen ausdrücken, 
da die in Frage stehenden überseeischen Interessen in der Entwickelung be- 
griffen, veränderlich und, wenn man wolle, auch „uferlos“ seien. Die 
Kreuzerflottille müsse genügend Schiffe haben, um Stationen da zu errichten, 
wo deutsche Interessen im großen Umfange vorhanden seien, um an solchen 
Stellen recht häufig unsere Flagge zu zeigen und bei außerordentlichen 
Ereignissen, wie Revolutionen und Kriegen zwischen dritten Staaten, zum 
Schutz der deutschen Interessen auch mit Gewalt einzugreifen. Auch bei 
uns hätten sich in den letzten 10 Jahren unsere überseeischen Interessen in 
ganz außerordentlicher Weise entwickelt, dazu sei noch die Kolonialpolitik 
hinzugetreten, und selbst ihre Gegner werden doch mit dieser Thatsache 
rechnen und das bewilligen müssen, was dort zur Aufrechterhaltung der 
Autorität des Reichs notwendig sei. Handel, Schiffahrt über See, Küsten- 
schiffahrt seien gewachsen, deutsche Kapitalien seien in erheblichem Maße 
über See angelegt, und der Strom der Auswanderung sei ein beträcht- 
licher. Jetzt sei ein neues Auswanderungsgesetz in Vorbereitung begriffen; 
eines seiner wichtigsten Ziele sei, Maßregeln zu ergreifen, um die Deutschen 
dem Deutschtum zu erhalten. Auch dazu diene der deutsche Kreuzer; denn 
nichts sei so geeignet, in dem Deutschen im Auslande die Erinnerung an 
das Vaterland zu stärken, wie das Erscheinen des Kreuzers, der die Bande 
wieder neu knüpfe und den Geist der Vaterlandsliebe stärke. Der Kreuzer 
zeige der fremden Macht, daß hinter den lokalen deutschen Interessen die 
Macht des Deutschen Reiches stehe. Endlich kämen dazu die zahlreichen 
Missionen, deren Beruf gerade in jenen überseeischen Ländern mit großen 
Gefahren verbunden sei und deshalb eines besonderen Schutzes bedürfe. 
Wir hätten in unserer friedlichen Expansion über See viel geleistet und 
müßten in Zukunft viel und noch mehr leisten. Der Abg. Richter habe 
neulich einmal hervorgehoben, daß unser überseeischer Handel zum größten 
Teil nach Ländern mit großer Zivilisation ginge, wo wir einen Schutz 
durch Kreuzer nicht nötig hätten. Richtig sei diese Bemerkung, soweit etwa 
die Vereinigten Staaten oder eine englische selbständige Kolonie in Betracht 
komme. Trotzdem sei der Einwand nicht stichhaltig. Wir müßten uns 
allmählich mit dem Gedanken vertraut machen, daß unsere Ausfuhr nach 
jenen hochzivilisierten Ländern des Westens und Ostens den Zenith erreicht 
habe und sich in absehbarer Zeit in absteigender Linie bewegen werde, weil 
in jenen Gebieten mit einer kräftigen wirtschaftlichen Entwickelung der Ge- 
danke und die Fähigkeit gewachsen sei, sich von Europa mehr und mehr 
unabhängig zu machen. Wir würden also unsere Expansion mehr und mehr
	        
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