Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierzehnter Jahrgang. 1898. (39)

272 Frankreich. (Januar 23. Februar 7.) 
23. Januar. In Paris und in Algier finden lebhafte 
antisemitische Kundgebungen gegen die Dreyfuspartei und Ruhe- 
störungen statt. Es beteiligen sich auch Offiziere daran. 
Januar. Die Presse greift die Erklärung des deutschen 
Staatssekretärs v. Bülow heftig an (S. 20) und erklärt sie für 
gänzlich bedeutungslos. Daß Deutschland Dreyfus zu Spionen- 
diensten nicht gebraucht habe, werde dadurch nicht bewiesen. 
7. Februar. (Paris.) Prozeß Zola. Aussagen der Generale. 
Während des Prozesses finden täglich große Demonstrationen für 
und wider Zola und Dreyfus statt. Den Offizieren, die vernommen werden, 
wie dem Generalstabschef Boisdeffre, werden große Ovationen gebracht. — 
Im Prozesse selbst kommt es wiederholt zu stürmischen Scenen. Das Gut- 
achten der Schreib-Sachverständigen, die Dreyfus als Verfasser des Borderau, 
das zu seiner Verurteilung führte, erklärt haben, wird von anderen Sach- 
verständigen angegriffen. 
Am 16. sucht General Pellieugx nachzuweisen, daß das Bordereau 
nicht von Esterhazy verraten sein könne und polemisiert gegen die Ver- 
teidigung Zolas, die alle vereidigten Sachverständigen, die nach dem Original 
des Borderau gearbeitet hätten, zurückweise und nur zu denjenigen Sach- 
verständigen Vertrauen habe, die sich aus Liebhaberei mit Schriftunter- 
suchungen beschäftigten — und unter diesen befänden sich ein Zahnarzt und 
ein Ausländer. „Diese Taktik,“ fährt Pellieux fort, „wundert mich nicht, 
denn schon Mathien Dreyfus hatte sie mir in meinem Bureau angedeutet, 
nachdem er Esterhazy angeschuldigt hatte. Andererseits hat man viel von 
Handschriften, niemals aber von dem Inhalt des Bordereaus gesprochen. 
Ich behaupte, Ihnen hier, mit den Schriftstücken in der Hand, beweisen zu 
können, daß der Offizier, welcher das Bordereau geschrieben hat, dem 
Kriegsministerium angehört und Artillerist ist.“ Nur ein solcher habe die 
in dem Bordereau augeführten Thatsachen kennen und sich der in dem Bor- 
dereau vorkommenden technischen Ausdrücke bedienen können. Niemals 
hätte ein Infanterie-Offizier das Bordereau schreiben können, da einem 
solchen alles, wovon in dem Bordereau die Rede sei, unbekannt sei, denn 
die Artillerie hüte sehr sorgfältig ihre Geheimnisse, die Esterhazy als In- 
fanterie-Offizier in der Provinzstadt Rouen gar nicht habe kennen können, 
wo nicht einmal Artillerie liege. — Pellieux zergliedert nun die betreffenden 
Angaben des Bordereaus: über eine neue hydraulische Geschützbremse, über 
Artillerie-Formation u. a. Das Bordereau verspricht ferner die Lieferung 
des Schieß-Handbuches der Feldartillerie aus dem Jahre 1894. Auch dieses 
Handbuch von 1894 sei nur wenigen Artillerie-Offizieren bekannt, wohl 
aber wurde es in den Bureaus der Artillerie-Direktion im Kriegsministerium 
aufbewahrt, wo es Dreyfus zugänglich war. Ein Offizier Bernheim, welcher 
„zufällig“ auch Israelit sei, habe freilich behauptet, er habe ein Schieß- 
Handbuch an Esterhazy geliehen, aber die Untersuchung habe festgestellt, 
daß Bernheim nur ganz unwichtige Anweisungen über das Artillerie- 
Schießen an Esterhazy geliehen habe. — Pellieux kommt nun zum Schlusse. 
Er spricht vortrefflich; seine Rede macht sichtlichen Eindruck. „Fast nichts," 
sagt er, „bleibt also von dem Gebäude von Hypothesen, das man hier 
aufgebaut hat. Erstaunlich ist nur, daß man hier gar nicht von der ehren- 
kränkenden Anklage spricht, welche Zola gegen die Offiziere des Kriegs- 
gerichts erhoben hat und die allein dem Prozesse zu Grunde liegt, indem 
er Offiziere beschuldigt, einen Schuldigen auf Befehl freigesprochen zu
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.