114 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 23.)
Thielen folgende Erklärung über die Kompensationen für andere
Landesteile ab:
„Die Staatsregierung kann nur an der bereits in beiden bisherigen
Verhandlungen bekundeten und begründeten Auffassung festhalten, daß
grundsätzlich der Bau neuer Verkehrsstraßen an sich diejenigen Landesteile,
welche von ihnen keine Vorteile oder aber Nachteile erwarten, nicht berech-
tigen, einen Anspruch auf Kompensationen zu erheben oder gar zu fordern,
daß die Landesvertretung ihre Genehmigung der betreffenden Gesetzentwürfe
von der vorherigen Zusicherung dieser Kompensationen abhängig mache.
Der entgegengesetzte Grundsatz kann weder von der Staatsregierung noch
von der Landesvertretung aufgestellt werden, denn er würde zu einer un-
wirtschaftlichen Vergeudung der Staatsmittel oder zu einer völligen Stockung
in der Entwickelung des Verkehrswesens führen. Die Regierung erachtet
es selbstredend nach wie vor für die Aufgabe der Verkehrspolitik, eine un-
gestörte Entwickelung der wirtschaftlichen Lage der verschiedenen Landesteile
zu fördern. Sie wird daher auch bemüht sein, wesentliche Verschiebungen
und Benachteiligungen, die in den Absatzverhältnissen einzelner Gebiete des
Vaterlandes infolge des Rhein-Elbekanals demnächst eintreten sollten, durch
zweckentsprechende Maßnahmen, insbesondere auch auf dem Gebiete der
Eisenbahntarife, hintanzuhalten. In letzterer Beziehung kann sie aber zur
Zeit eine ins einzelne gehende Zusicherung nicht machen, da sie weder das
Bedürfnis an sich, noch den Umfang desselben übersehen kann, auch nicht
in der Lage ist, der verfassungsmäßigen Entscheidung der Krone in Tarif-
sachen vorzugreifen. Im vorliegenden Falle aber, wo zwei an verschiedenen
Enden des Staatsgebiets belegene Montan-Industrie-Reviere, welche hin-
sichtlich des Absatzes ihrer Produkte auf gewissen in der Mitte des Landes
belegenen Märkten in einem natürlichen Wettbewerbverhältnisse stehen,
rechtfertigt es sich, von jenem Grundsatze eine Ausnahme zu machen und
schon jetzt auf Maßnahmen Bedacht zu nehmen, welche geeignet sind,
wesentliche Verschiebungen in jenen Wettbewerbverhältnissen hintanzu-
halten, welche ihrer Natur nach eine längere Ausführungszeit bean-
spruchen. Unter ausdrücklicher Billigung Seiner Majestät des Königs habe
ich daher namens der Staatsregierung folgende Erklärung abzugeben: Die
Staatsregierung wird, wenn der vorliegende Gesetzentwurf die verfassungs-
mäßige Genehmigung erhält, die Wasserstraße zwischen Oberschlesien und
Berlin zu einer leistungsfähigen auf Staatskosten ausbilden. Die dieser-
halb eingeleiteten Ermittlungen haben als wahrscheinlich ergeben, daß es
technisch durchführbar sein wird, durch Anlegung von Stauweihern der
nicht kanalisierten Oderstrecke auch in trockenen Zeiten eine Wassertiefe von
etwa 1,40 Meter, die für die Beförderung von Schiffen bis 450 Tonnen
geeignet ist, zu verschaffen. Sollte indessen dieser Weg sich als ungangbar
erweisen, so werden als Ausgleich anderweite Maßnahmen, insbesondere
auch auf dem Gebiete der Eisenbahntarife zu dem Zwecke in Aussicht zu
nehmen sein, die Parität der Frachtkosten zwischen dem oberschlesischen und
dem rheinisch-westfälischen Montanreviere auf dem Schnittpunkt Berlin zu
gewährleisten. — In Betreff der Frage der Kanalisierung der Lippe ist
die Staatsregierung bereit, einem etwaigen Antrag der Provinz Westfalen
auf Erteilung der Konzession zur Kanalisierung der Lippe vorbehaltlich
näher festzusetzender billiger Bedingungen zu entsprechen. Die Staatsregierung
hat seine Veranlassung, auf die übrigen Kompensations-Forderungen ein-
zugehen.“
23. Juni. (Berlin.) Der Kaiser erhebt den Staatssekretär
des Aeußern v. Bülow in den Grafenstand.