Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierundzwanzigster Jahrgang. 1908. (49)

VI. 
Frankreich. 
4. Januar. An die Stelle des verstorbenen Justizministers 
Guyot Dessaigne tritt Kultusminister Briand, Kultusminister wird 
Handelsminister Doumergue, der durch Dep. Cruppi ersetzt wird. 
24. /28. Januar. (Kammer.) Debatte über Marokko. 
Abg. Jaures (Soz.) fordert die Regierung auf, Frankreich von 
dem marokkanischen Abenteuer zu befreien. Er tadelt jedes geheime 
Abkommen mit Spanien, das eine Teilung Marokkos bezwecke. Abg. 
Ribot: Die Bestrebungen Jaures, die darauf hinausliefen, Frankreichs 
Stellung aufzugeben und diejenigen zu verlassen, die Zuflucht auf französischen 
Schiffen gesucht hätten, dürften nicht zugelassen werden. Von fanatischen 
Marokkanern werde schon jetzt behauptet, die Europäer könnten sich von 
ihren Schiffen nicht entfernen. Ribot führte weiter aus, er sei auch nicht 
dafür, nach Fez zu marschieren. Frankreich müsse zeigen, daß es niemals 
seine Staatsangehörigen verlassen, und daß es stets die Europäer beschützen 
werde. Delcassé: Da Frankreich gegen seinen Willen zur Konferenz 
von Algeciras geführt worden sei, sei es eine Ehre für Frankreich, seine 
Politik gemäß der Algeciras-Akte zu befolgen. Frankreich, als die Macht, 
deren Einfluß überwiegend ist, durfte keiner anderen Macht erlauben, an 
seine Stelle zu treten. Frankreich mußte handeln, um Marokko aus der 
Anarchie zu reißen. Die Mittelmeermächte erkannten durch die geschlossenen 
Abkommen an, daß Frankreich dieses Recht zustehe. Auch der deutsche 
Reichskanzler hatte anerkannt, daß unsere Aktion allen zugute kommen 
mußte. Wir teilten dem Sultan den französisch-englischen Vertrag sofort 
nach seinem Abschluß mit und erklärten ihm diesen Vertrag. Redner fuhr 
fort: Warum wurde die legitime Aktion, die wir begonnen hatten, nicht 
mit Beharrlichkeit weiter geführt? Es würde Uebertreibung sein, darin 
den Einfluß der Ereignisse in der Mandschurei zu suchen. Deutschland 
und Rußland hatten von uns eine begünstigte Behandlung erfahren. 
Deutschland hatte von dem französisch-englischen Vertrage drei Wochen vor 
seiner Unterzeichnung Kenntnis. Die Hegemonie Deutschlands in Europa 
war bedroht; alle Nationen, denen die Unabhängigkeit Europas am Herzen 
lag, waren um Frankreich gruppiert. (Lebhafter Beifall links und im 
Zentrum.) Die Konferenz von Algeciras, die dann zusammentrat, ließ die 
Möglichkeit eines Krieges voraussehen. Der Krieg wurde Frankreich aber 
nicht erklärt. Wenn Frankreich sein Recht für sich hat, seine Allianz und 
seine mächtigen Freundschaften, kann es Vertrauen zu sich selbst haben.