Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Erste Hälfte. (55a)

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jetzt geschulte Beamte mit Kenntnis und Verständnis für die sozialpolitischen 
Aufgaben, und die einzelstaatlichen Behörden sind unablässig bemüht, ihr 
Personal nach dieser Richtung zu vervollkommnen. Es ist falsch, die Tätig- 
keit eines Reichsbeamten zu messen nach der Zahl der von ihm betriebenen 
Gesetze und Berordnungen. Meine Kommissare werden im Laufe der 
Debatte auf die angeregten Einzelfragen noch zurückzukommen Gelegenheit 
haben. Wert und Bedeutung unserer sozialpolitischen Gesetzgebung sind zu 
Unrecht herabgesetzt worden. Die im vorigen Jahre in dieser Richtun 
gewünschte Denkschrift ist in Ausarbeitung begriffen. Diejenigen, die nch 
dafür interessieren, möchte ich noch auf die bezügliche Schrift des Prä- 
sidenten des Reichsversicherungsamts Dr. Kaufmann verweisen. Die sozial- 
politischen Probleme, die uns weiter zu beschäftigen haben, liegen auf dem 
Gebiete des Koalitionsrechtes. Diese Probleme beeinflussen nicht nur den 
Arbeitsmarkt, sie haben tatsächlich die Grundlagen verschoben, auf denen 
sich unsere Volkswirtschaft bisher wissenschaftlich und praktisch aufgebaut 
hat. Es greift hier hinein die Syndikatsgesetzgebung, das Submissions- 
wesen, die Erörterung über das Kalisyndikat und die Verstaatlichung des 
Kohlenbergbaues, das Verlangen, durch Verstaatlichung einen Einfluß auf 
die Kohlenpreisgestaltung zu gewinnen. Das freie Spiel der Kräfte ist 
weder der Theorie noch der Praxis nach wirksam in der jetzigen Gestaltung 
unseres Wirtschaftslebens. An seine Stelle ist der bewußte Wille der Organi- 
sation getreten. Bis in das Beamtenrecht, bis in das Recht der Staats- 
arbeiter schlägt dieses Problem seine Wellen. Soweit diese Fragen außer- 
balb des Gebiets des Arbeiterrechts liegen, werde ich darauf heute nicht 
eingehen; ich gehe nur ein auf die Frage des Koalitionsrechts der Arbeiter. 
Die Auffassung der verbündeten Regierungen, wie sie sich nach der ge- 
samten Entwicklung darstellt, habe ich etwa vor Jahresfrist hier erörtert. 
Der von mir dargelegte Rechtsstandpunkt ist von niemand widerlegt worden, 
ich habe daran nichts abzuändern. Ich habe nicht die Absicht, auf die 
Frage des beitswilligenschußes einzugehen. Ich habe im vergangenen 
Jahre mich darüber ausgelassen, und der Reichskanzler hat ja bei der 
ersten Lesung des Etats darüber gesprochen. Es erübrigt sich, daß ich 
deshalb noch einmal darauf eingehe. Aber ich möchte mich zu einer anderen 
Frage wenden, die eng mit dem Koalitionsrecht zusammenhängt, und die 
der Abg. Doormann bei seinen Ausführungen gestreift hat. Er hat gefragt, 
ob wir noch immer nicht so weit wären, daß wir auf eine gesetzliche Regelung 
des Tarifvertrages eingehen können. Wenn darauf nicht gleich eine 
zusagende Antwort erteilt werden kann, so kommt das daher, weil hier 
verschiedene Schwierigkeiten vorhanden sind, auf dem Wege der Gesetz- 
gebung einzugreifen. Die eine Voraussetzung ist die Rechtsfähigkeit der 
Berufsvereine. Dieser müßte eine Einigung zwischen Regierung und Parla- 
ment über ein Berufsvereinsrecht vorausgehen, das den Berufsvereinen auf 
der einen Seite das notwendige Maß von Freiheit läßt, das sie brauchen, 
um ihre wirtschaftlichen Zwecke zu erfüllen, dann aber muß auch ein Mittel 
gefunden werden, um die eingegangenen Verträge sicherzustellen, und der 
Staat muß das Recht erhalten, wenn sie ihre Macht zum Schaden der 
Gesamtheit und des einzelnen anwenden, hier einzugreifen. Ob dieses Ziel 
in absehbarer Zeit erreichbar ist, erscheint mir nach den Erfahrungen der 
vergangenen Zeit im hohen Maße zweifelhaft. Ich möchte für meine 
Person ausdrücklich betonen, daß es sich hier um ein Problem handelt, das 
wir zu einer endgültigen Lösung zu bringen versuchen müssen. Ich weise 
auch darauf hin, daß es sich hier um ein Problem handelt, das zurzeit 
alle Kulturstaaten der Welt beschäftigt, und das noch keiner, wie verschieden 
auch seine gesetzgeberischen Maßnahmen waren, hat lösen können. So ver-
	        
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