Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

Viie ssterreichisz-zungarisce Monarchie und die Machfolgestaaten. (Jan. 24.—25.) 7 
regierung der ukr. Republik (s. Ukraine, 12. Jan.) beschlossen habe, Delegierte 
nach Brest-Litowsk zu senden, die innerhalb der russ. Delegation an den 
Verhandlungen teilnehmen sollen. Cz. verliest die diesbezüglichen von Joffe 
den Delegationen der Mittelmächte übermittelten Schriftstücke und erklärt, 
dies sei jedenfalls eine neue Schwierigkeit, denn die Mittelmächte könnten 
und wollten sich nicht in die inneren Angelegenheiten Rußlands einmischen. 
Was Polen betreffe, so wollten die Mittelmächte gar nichts von diesem 
neuen Staate. Frei und unbeeinflußt solle Polens Bevölkerung ihr eigenes 
Schicksal wählen. Er hätte es gern gesehen, wenn die poln. Regierung an 
den Verhandlungen hätte teilnehmen können, aber die Petersburger Re- 
Lgierung habe das nicht zugegeben, weil nach ihrer Auffassung die jetzige 
poln. Regierung nicht berechtigt sei, im Namen Polens zu sprechen. Eine 
andere Schwierigkeit sei die Meinungsverschiedenheit zwischen Deutschland 
und Rußland in bezug auf das Selbstbestimmungsrecht der russ. Völker, 
nämlich jener Gebiete, die von deutschen Truppen besetzt sind. Deutschland 
beabsichtige keine gewaltsamen Gebietserwerbungen, aber es stehe auf dem 
Standpunkt, daß die zahlreichen Willensäußerungen der Bevölkerung der 
besetzten Gebiete als Basis für die Volksmeinung zu gelten hätten, die 
nachher durch ein Votum auf breiterer Basis zu bestätigen sei, ein Stand- 
punkt, der von der russ. Delegation vorläufig noch bestritten werde. Eine 
weitere Differenz bestehe darin, daß Rußland die Zurückziehung aller Be- 
satzungstruppen vor der Abstimmung verlange, während Deutschland die 
betreffenden Landesteile und Bevölkerungen nicht ganz ohne Schutz und 
Organisation lassen wolle. Es müsse hierzu erklärt werden, daß alles, was 
heute den besetzten Provinzen das staatliche Leben ermögliche, Bahn. Post, 
Telegraph, Industrie, Verwaltung, Polizei, Rechtspflege usw. deutscher Besitz 
sei oder in deutschen Händen läge. Die plötzliche Zurückziehung des ganzen 
Apparats würde einen unhaltbaren Zustand schaffen. Hier müsse und werde 
ein Mittelweg gefunden werden; denn die Unterschiede seien nicht so groß, 
daß ein Scheitern der Verhandlungen gerechtfertigt wäre. Cz. fährt fort: 
Sind wir einmal mit den Russen zum Frieden gekommen, so ist, meiner 
Ansicht nach, der allgemeine Friede nicht mehr lange zu verhindern, trotz 
aller Anstrengungen der westlichen Ententestaatsmänner. Ich habe ver- 
nommen, es sei hier und dort nicht verstanden worden, warum ich in 
meiner ersten Rede nach der Wiederaufnahme der Verhandlungen erklärt 
hatte, daß es sich jetzt in Brest nicht um einen allgemeinen, sondern um 
einen Separatfrieden mit Rußland handle. Das war die notwendige Kon- 
statierung einer klaren Tatsache, welche auch Herr Trotzki rückhaltlos an- 
erkannt hat, und sie war notwendig, weil man auf einer anderen Basis 
verhandelt, d. h. in einem begrenzteren Rahmen, wenn es sich um einen 
Frieden mit Rußland allein, als wenn es sich um einen allgemeinen Frieden 
handelt. Obwohl ich mich keinen Illusionen darüber hingebe; daß die Frucht 
des allgemeinen Friedens nicht über Nacht reifen wird, so bin ich dennoch 
überzeugt, daß sie im Reifen ist und daß es nur eine' Frage des Durch- 
haltens ist, ob wir einen allgemeinen ehrenvollen Frieden erhalten oder nicht. 
Ich bin in dieser Ansicht neuerdings bestärkt worden durch das Friedens- 
angebot, welches der Präsident der Ver. St. von Amerika (s. Ver. St., 11. Jan.) 
an die ganze Welt gerichtet hat. Es ist dies ein Friedensangebot; denn in 
14 Punkten entwickelt Herr Wilson jene Grundlagen, auf welchen er den 
allgemeinen Frieden herbeizuführen wünscht. Es ist ganz selbstverständlich, 
daß kein solches Angebot ein Elaborat darstellen kann, welches in allen 
Details akzeptabel erscheint. Wäre dies der Fall, dann wären die Verhand- 
lungen überhaupt überflüssig, dann könnte ja der Friede durch eine ein- 
fache Annahme, durch ein einfaches Ja und Amen abgeschlossen werden.
	        
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