106 Vie äfterreitisch-nngarischt Monarthie und die Rathfelgestaaten. (Nov. 12.)
österreich als Republik, das ist als freien Volksstaat, einzurichten, dessen
Gesetze vom Volk ausgehen und dessen Behörden ohne Ausnahme durch
die Vertreter des Volkes eingesetzt werden. Zugleich hat die Prov. National-
versammlung beschlossen, ihre Vollmachten unverzüglich, sobald die nötigsten
Vorkehrungen getroffen sind, in die Hände des Volkes zurückzulegen. Im
Monat Jan. wird das gesamte Volk, Männer und Frauen, zur Wahl
schreiten und sein äußeres Schicksal wie seine innere Ordnung allein, frei
und unabhängig bestimmen. Was dieses von Unglück heimgesuchte, schwer
geprüfte Volk seit den Tagen von 1848 immer begehrt, was ihm die Mächte
des Rückschrittes ebenso hartnäckig wie kurzsichtig versagt haben, das ist
nun inmitten des allgemeinen Zusammenbruches der alten Einrichtungen
glücklich errungen. Mitbürger! Deutschösterreicher! Wir stellen die Volks-
freiheit unter den Schutz der gesamten Bevölkerung! Wir fordern Euch
auf, bereit zu sein, Eure Rechte, Eure Freiheiten, Eure Zukunft mit der
Tatkraft, aber auch mit der Besonnenheit und Klugheit eines freien Volkes
selbst zu wahren und zu beschirmen. Jetzt, da die Freiheit gesichert ist, ist
es erste Pflicht, die staatsbürgerliche Ordnung und das wirtschaftliche Leben
wiederherzustellen. Der neue Staat hat ein Trümmerfeld übernommen, alle
wirtschaftlichen Zusammenhänge sind aufsgelöst, die Erzeugung steht beinahe
still, der Gütterverkehr stockt, ein Viertel der männlichen Bevölkerung wandert
noch fern von der Heimat. Die Vorsorge für das tägliche Brot, die Zufuhr
von Kohle, die Bereitstellung der notdürftigsten Bekleidung, die Wieder-
aufnahme des Ackerbaues, die Aufnahme der Friedensarbeit in den Fabriken
und Werkstätten ist unmöglich, wenn nicht sofort alle Bürger bereitwilligst
und geordnet zur Tagesarbeit zurückkehren. Unsere armen Soldaten, die
zur Heimat, zu Weib und Kind zurückkehren wollen, können nicht befördert
und verköstigt werden, wenn unser Verkehr stockt! Jeder, der den Anord-
nungen der Volksbehörden nicht Folge leistet, ist sein eigener, der Feind
seines Nächsten und der Gesamtheit! Deutschösterreicher! Wir sind nun
ein Volk, sind eines Stammes und einer Sprache, vereinigt nicht durch
den Zwang, sondern durch den freien Entschluß aller. Jedes Opfer, das
Ihr bringt, gilt den Euren und nicht fremden Herren noch fremden Völkern.
Darum muß jeder mehr tun, als das Gesetz fordert. Wer über Vorräte
verfügt, öffne sie den Bedürftigen! Der Erzenger von Lebensmitteln führe
sie denen zu, die hungern! Wer überschüssige Gewandung besitzt, helfe die
frierenden Kinder bekleiden! Jeder leiste das Aeußerste! Deutschösterreicher!
Euer Bürgergemeinsinn helfe den Volksbehörden, unser Volk vor der sonst
drohenden Katastrophe zu retten! Jeder denke vor allem an die nächsten
Wochen und Monate. Für später ist gesorgt. In wenigen Monaten wird
der Weltverkehr wieder frei sein. Deutschösterreicher! Bürger, Bauer und
Arbeiter haben sich zusammengetan, um das neue Deutschösterreich zu be-
gründen. Bürger, Bauer und Arbeiter sollen in den nächsten Monaten
der höchsten nationalen, politischen und wirtschaftlichen Not zusammenstehen,
einander bereitwilligst helfen und das Volk vor dem Untergange bewahren.
Nach wenigen Monaten, so hoffen wir, kehrt in der Welt und kehrt in
Deutschösterreich das normale Leben wieder. Dann wird das gesamte Volk
sich seine dauernde staatliche Ordnung geben. Bis dahin Vertrauen, Ein-
tracht, Selbstzucht und Gemeinsinn! Heil Deutschösterreich!
Staatskanzler Dr. Renner beantragt weiter, die Nationalversamm-
lung möge gemeinsam in feierlichem Zuge sich vor die Rampe des Hauses
begeben, um dort das Volk von Deutschösterreich zu begrüßen und ihm
die Beschlüsse mitzuteilen. Die Anträge werden einstimmig angenommen.
Nach Wiedereröffnung der Sitzung wird u. a. der Antrag, wonach
die Prov. Nationalversammlung die feierlichen Beitrittserklärungen der