Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

Bie Uerreichisch-ungarische Monarchie und die Nachsolgestaaten. (Nov. 14.) 109 
200 Mitglieder umfaßt, mit einer längeren Rede, worin er zunächst des Sieges 
der tschech. Politik gedenkt, die, ohne ein Kompromiß zu kennen, den Weg 
zur Freiheit und Selbständigkeit verfolgt habe. Weiter gedenkt er aller, die 
an der Erreichung dieses Zieles mitgewirkt haben, und entbietet den Gruß 
der Nationalversammlung den mitverbündeten Staaten, den Südflawen und 
dem russ. Volke. Sodann fährt er fort: Fest und unverbrüchlich beharren 
wir darauf, daß der durch eine vielhundertjährige Geschiche geheiligte Ver- 
band der böhmischen Länder unverletzt bleibe, und werden um keinen Preis 
die Verbindung mit unseren slowak. Brüdern aufgeben. Im Namen der 
ersten Regierung der freien Tschechoslowak. Republik kann ich erklären, daß 
das deutsche Volk innerhalb der Grenzen unseres Staates nicht den geringsten 
Grund hat, für seine nationale Entwicklung Befürchtungen zu hegen. Getreu 
unseren demokratischen Grundsätzen wollen wir die deutschen Landsleute, 
wenn sie sich ehrlich auf den Boden unseres Staates stellen, in keiner Weise 
in ihrer kulturellen und sprachlichen Entwicklung verkürzen. Unser Staat 
wird allerdings ein tschech. Staat sein, wie wir ihn mit unserem Blut er- 
kämpft haben. Aber unser Stolz wird es sein, daß ein Nichttscheche sich 
bei uns nicht unterdrückt und unfrei fühlt. Wir werden nicht das alte 
österr. Regime nachahmen. Nicht nur wegen unseres historischen Rechtes, 
sondern auch wegen des Rechtes unserer Minoritäten auf ein freies nationales 
Leben werden wir niemals die Zerreißung unserer böhmischen Länder zu- 
lassen. Wir sind frei! Gefallen sind die schweren Fesseln der österreichischen 
und magyarischen Unterdrückung, und an uns ist es, zu beweisen, was das 
freie tschech. Volk vermag. Ich glaube und hoffe, daß wir es in vollem 
Maße beweisen werden. Alle Bande, die uns an die habsburg-lothringische 
Dynastie gefesselt haben, sind zerrissen, die Verträge von 1526 und die 
Pragmatische Sanktion existieren nicht mehr. Die habsburg-lothringische 
Dynastie ist aller Rechte auf den böhm. Thron verlustig, und wir erklären, 
das unser tschecho-slowak. Staat eine freie Tschechoflowak. Republik ist. 
Sodann wird Prof. Dr. Thomas G. Masaryk einmütig zum ersten 
Präsidenten der Tschechoslowak. Republik gewählt. Zum Präsidenten der 
Nationalversammlung wird einstimmig der bisherige Reichsratsabg. Franz 
Tomaschek gewählt. Hierauf leisten sämtliche Mitglieder der National- 
versammlung die Angelobung. Zu Vizepräsidenten werden gewählt: Udrzal, 
Dr. Hajn, Konecny und der Slowake Dr. Bela. Dieser spricht unter leb- 
haftem Beifalle dem tschech. Volke den Dank für die Befreiung der Slowaken 
aUs. Die Magyaren, erklärt er, haben uns Freiheit versprochen, aber wir 
erklären öffentlich, daß wir diese Freiheit nicht wollen. Wir wollen, glauben, 
hoffen und halten uns an die tschecho-slowak. Freiheit. 
Sodann werden durch Zuruf die am Vortage vom Nationalausschuß 
vorgeschlagenen Mitglieder der Regierung gewählt. Das Kabinett ist 
folgendermaßen zusammengesetzt: Dr. Kramarsch: Präsidium und prov. 
auswärtige Angelegenheiten; Dr. Benesch: Auswärtiges; Habermann: 
Unterricht; Klofatsch: Nationale Verteidigung; Praschek: Landwirtschaft; 
Dr. Rasin: Finanzen; Stanek: Oeffentliche Arbeiten; Dr. Soukup: Justiz; 
Dr. Stransky: Handel; Stribruy: Postwesen; Dr. Srobar: Gesund- 
heitswesen; Dr. Stefanik: Krieg; Svehla: Inneres; Dr. Vrbensky: 
Verpflegungswesen; Dr. Winter: Soziale Fürsorge; Dr. Zahradnik: Eisen- 
bahnen; Dr. Hruban: ohne Portefeuille. (Benesch, Schwiegersohn 
Masaryks, war früher Handelsschulprof. in Prag; Svehla ist der Führer 
der Agrarier; Klofatsch ist der Führer der Nationalsozialisten; Rasin ist 
Direktor der „Narodni Listy“; Praschek ist ehemaliger tschech. Landsmann- 
minister; Soz. sind Soukup und Winter. Das Ministerium hat stark journa- 
listischen Einschlag, da Svehla, Soukup, Klofatsch, Stribrny, Rasin, Stransky
	        
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