Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

208 Großbritannien. (Ang. 8. 
verlangt, es sollten von der Regierung entschiedenere Anstrengungen in der 
Richtung des Friedens gemacht werden, eine längere Erörterung über die 
Friedensfrage hervor. Es sprechen nicht nur die sog. Pazifisten, sondern 
auch der parlament. Führer der Arbeiterpartei Anderson und der lib. Abg. 
Lampert, die dem Standpunkt der Pazifisten gerecht zu werden suchen. Abg. 
Ponsonby (Soz.) führt aus, es sei äußerst wichtig, daß der Friede, wenn 
er komme, auf der Billigung der Bölker und nicht auf Verträgen beruhen 
sollte, wie sie in der Vergangenheit abgeschlossen wurden und die tatsächlich 
lediglich Pausen in den Feindseligkeiten waren. P. beklagt, daß die Wirkung der 
Aeußerungen des Premierministers dazu geführt habe, alle Schattierungen 
der deutschen öffentlichen Meinung zu einigen und jeglichen Wunsch nach 
einer vernünftigen Regelung in Deutschland zu ersticken. Niemand habe 
mehr in dieser Richtung gewirkt als der Premierminister selbst mit seinem 
knock-out-Schlag in allen seinen Variationen, denn das habe der deutschen 
Militärpartei ermöglicht, den Sozialisten zu sagen: „Seht, was beabsichtigt 
ist, es ist unsere Zerstörung, die der Feind wünscht. Wir müssen deshalb 
unsere Reihen zusammenschließen und vorwärts geben.“ Der militärische 
Sieg sei jetzt Großbritaniens Ziel geworden, und deshalb sei eine dauernde 
Regelung nicht ein Zweck, nach dem es zurzeit trachte. Der Premier- 
minister habe mit seiner Bezugnahme auf den Vertrag mit Frankreich (s. o.) 
so ziemlich die Katze aus dem Sack gelassen. Er selbst, Ponsonby, habe 
immer betont, daß es einen solchen Vertrag gegeben oder daß jedenfalls 
eine Ehrenpflicht bestanden habe. Großbritannien, meint Ponsony, sei jetzt 
in einer sehr starken Position, wenn nur irgendein Entgegenkommen ge- 
zeigt würde. — Der Rede Ponsonbys tritt der frühere Minister Robertson 
(Lib.) entgegen, der einen vollständigen Sieg über Deutschland fordert, um 
Deutschland von der Nutzlosigkeit von Rüstungen zu überzengen. 
Im Namen der Regierung spricht Staatssekrär Balfour, der aus- 
führt, die Debatte habe keine neuen Tatsachen geliefert, und alles 
Gerede, daß man der deutschen Demokratie neue Ideen bringen und 
den Frieden erlangen müsse, indem man die deutschen Mehrheitssozialisten 
überrede, ihre Ansichten zu ändern, habe in der Tat auf das wahre 
Hindernis für einen rechtlichen Frieden keine Rücksicht genommen. Das 
Hindernis sei, daß der deutsche Militarismus nicht auf dem Ehrgeiz 
einiger Soldaten oder, genauer gesagt, der Militärpartei, sondern darauf 
beruhe, daß deutsche Schriftsteller, Professoren, Theoretiker und Praktiker, 
soweit solche sich mit historischen Untersuchungen beschäftigen, alle die 
Theorie vertreten, daß die wahre Politik jeder Nation, die groß sein 
wolle, die Politik der Weltherrschaft war. Diese große unmoralische Häresie 
habe gerade unter den gebildeten Klassen in Deutschland Wurzel gefaßt, 
und ehe diese Wurzel nicht zerstört sei, bestehe nur sehr geringe Hoffnung, 
daß Deutschland freiwillig ein friedfertiges Mitglied der Nationen werde. 
Das Uebel hatte seinen Ursprung in den leicht errungenen militärischen 
Erfolgen Deutschlands, und der einzige Weg, dieses Uebel zu zerstören, be- 
steht darin, zu zeigen, daß der Krieg nicht immer zu leichten Erfolgen und 
zuweilen zu gar keinem Erfolge führt. Unsere Aufsgabe ist nicht, zu fragen, 
ob diese abscheulichen deutschen Doktrinen ein Phantasiebild vereinzelter 
unabhängiger Denker waren. Wir haben uns nur an die Handlungen der 
deutschen Regierung zu halten. Von Belgien wollen wir nichts anderes 
sagen, als das Haus daran zu erinnern, daß bisher noch niemals ein 
deutscher Staatsmann, selbst wenn die Ereignisse der Friedensrichtung in 
Deutschland einen kräftigen Anstoß gaben, es über sich zu gewinnen ver- 
mochte, klar und bestimmt, ohne Zweideutigkeiten zu sagen: „Wir haben
	        
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